Schlagwortarchiv für: Ausgabe 01/2023

Ina Remmers über die Balance zwischen Agilität und Stabilität, die Schwierigkeit im Moment zu verweilen und über die Frage, was für sie Heimat bedeutet.

Was sagen Sie Menschen, die sich vor Veränderungen fürchten?

Dass ich sie verstehen kann. Dass es ganz normal ist. Neben Agilität brauchen wir auch Stabilität in unserem Leben. Die Balance ist die große Kunst. Ich glaube daran, dass wir eher bereit für Veränderungen sind – sie sogar suchen –, wenn die anderen Säulen unseres Lebens stabil sind. Ich bin bereit, beruflich alles auf eine Karte zu setzen, wenn ich mich sozial geborgen und aufgefangen fühle. Wenn alle Säulen ins Wanken geraten, bedeutet Veränderung Stress und ist bedrohlich. Genau das Gegenteil sollten wir anstreben.

Was würden Sie gerne an sich selbst ändern?

Ich würde gerne häufiger im Moment verweilen, statt gedanklich immer schon drei Schritte weiter zu sein. Vor allem Momente, die es wirklich wert sind, einfach mal aufgesogen zu werden. Als mein Mann mir im Urlaub nach einer schönen Wanderung am Strand einen Heiratsantrag machen wollte, wollte ich direkt weiter – schließlich stand die Abenddämmerung kurz bevor! Der Antrag musste warten. True Story. Das Gleiche gilt für berufliche Erfolge. Es hat in den vergangenen Jahren sehr viele Momente gegeben, in denen ich hätte sagen können: Das feiern wir jetzt. Mit einem netten Abendessen oder so. Habe ich aber nicht oft gemacht.

Was ist für Sie Heimat und was bedeutet sie Ihnen?

Wurzeln. Tatsächlich ein Gefühl von Erdung. Sprache, Dialekt, Gerüche, Traditionen. Dass man irgendwo ankommen kann. Getragen natürlich von den wichtigsten Menschen. Ich kenne einige, die dieses Gefühl von Heimat aus verschiedenen Gründen nie erleben konnten und die bis heute danach suchen.

Worin haben Sie großes Vertrauen?

In das Vertrauen. Und den Vertrauensvorschuss. Wir müssen die Tür bei uns selbst öffnen, damit andere hindurchgehen können. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, Fremden Vertrauen zu schenken – auch wenn mir das nicht leichtfällt. Das gilt auch für die Nachbarschaft: Dass ich bereit bin, darauf zu vertrauen, dass zum Beispiel meine Nachbarin mir das Kinderspielzeug, das sie sich ausleiht, wieder wohlbehalten zurückbringt, ohne dass ich dafür die Kopie ihres Personalausweises brauche.

Wann gelingt Zusammenarbeit und wann oft nicht?

Auch hier spielt Vertrauen eine wichtige Rolle. In Ruhe zuhören, Freiräume und klare Absprachen. Wenn (zu viel) Ego im Spiel ist, wird es eigentlich immer schwierig.

Wie finden Sie Ausgleich zu Ihrem Berufsalltag?

Ehrlicherweise denke ich so nicht. Mein Beruf ist auch mein Leben und vice versa. Ich ziehe Energie aus dem Privatleben für das Berufsleben und umgekehrt. Der Begriff des Ausgleichs trifft es daher für mich nicht. Die beruflichen Situationen, in denen ich das Gefühl hatte, dass das mit der gegenseitigen Energie nicht funktioniert, habe ich aktiv geändert. Gleichzeitig ist es mir auch wichtig, Privates und Beruf nicht ständig zu vermischen. Fokus und Prioritäten spielen eine größere Rolle als der Gedanke, etwas auszugleichen.

 

 

 

Autorin

Ina Remmers ist Gründerin und Geschäftsführerin von nebenan.de. Sie zog es vom Erzgebirge über die Schwäbische Alb bis nach Berlin, wo sie immer wieder neu Anschluss finden musste. Als wirklich soziales Netzwerk soll nebenan.de genau dies in den Nachbarschaften ermöglichen. Ina Remmers ist zudem Gründerin des Organspende-Vereins „Junge Helden“ und bei den German Startup Awards 2020 als „Beste Gründerin“ für nebenan.de ausgezeichnet worden.
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„Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft“

Dass es in Deutschland eine Energiewende braucht, scheint außer Frage zu stehen. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen haben den Wandel hin zu einer nachhaltigeren Energieversorgung noch mal deutlich gemacht. Und dennoch gehen die Veränderungen nur langsam voran – oder sie werden gar ausgebremst. Die Energieökonomin Claudia Kemfert fordert im Gespräch von allen Beteiligten ein entschlossenes Handeln für die Wende. Vor allem müsse man so schnell wie möglich aufhören, fossile Energien zu verbrennen.

Frau Kemfert, seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit nachhaltiger Energieversorgung und der Energiewende und Sie haben immer wieder auf die Probleme aufmerksam gemacht. Es ist manches passiert. Es gab und gibt aber auch immer wieder Rückschläge hinsichtlich der Energiewende. Zuletzt hieß es, dass Deutschland die für 2030 angesetzten Klimaziele deutlich verfehlen wird. Haben Sie noch Zuversicht?
Wenn es gelingt, zahlreiche Fehlentwicklungen zu korrigieren, könnten die Klimaziele durchaus erreichbar sein. Im Energiesektor muss so schnell wie möglich der Kohleausstieg umgesetzt werden. Aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der damit einhergehenden Gaskrise werden Kohlekraftwerke derzeit wieder verstärkt genutzt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss schneller gehen. Der Verkehrssektor hinkt weit hinterher, Elektromobilität auf Schiene und Straße muss deshalb ebenfalls schneller forciert werden. Verkehrswende bedeutet vor allem eine Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung. Der Schienenverkehr und ÖPNV müssen gestärkt, Ladeinfrastrukturen ausgeweitet sowie Fahrrad- und Fußwege ausgebaut und sicherer gemacht werden.

Auch im Gebäudesektor gibt es viel nachzuholen. Die energetische Sanierung der Bestandsgebäude ist enorm wichtig genauso wie der Einsatz von Wärmepumpen und die Erreichung von emissionsfreien Nah- und Fernwärmeoptionen.

Und schließlich der Industriesektor: Das Energiesparen ist hier genauso elementar wie der Einsatz von hochindustriellen Wärmepumpen und emissionsfreien Technologien. Der kostbare Ökostrom muss möglichst effizient überall genutzt werden.

Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch beträgt in Deutschland etwa 17 Prozent. Was, würden Sie sagen, ist der Hauptgrund, warum der Anteil immer noch relativ gering ist?
Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde insbesondere in den vergangenen zehn Jahren massiv gebremst. Es wurden absichtlich Barrieren und Hemmnisse eingeführt. Die Umstellung auf Ausschreibungen hat den Zubau beispielsweise stark verlangsamt, auch die Einführung von Abstandsregeln bei der Windenergie hat dazu geführt, dass der Ausbau nahezu komplett zum Erliegen kam. Es gilt, die Rahmenbedingungen rasch zu ändern, damit der Anteil von erneuerbaren Energien überall wächst. Ökostrom sollte möglichst sofort effizient zum Einsatz kommen, wie beispielsweise bei Wärmepumpen oder Elektromobilität.

Die Folgen des Klimawandels sind gut belegt. Die Notwendigkeit der Veränderungen ist allgemein akzeptiert. Warum fällt es uns dennoch so schwer, einen wirklichen Umbruch zu gestalten?
Klimaschutz bedeutet, dass wir so schnell wie möglich aufhören müssen, fossile Energien zu verbrennen. Die Geschäftsmodelle der fossilen Industrie würden dann wegfallen. Das wird durch die Interessenvertreter nun seit Jahrzehnten erfolgreich verhindert. Die Beharrungskräfte sind enorm. Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft. Die Politik muss entschlossener die Interessen der zukünftigen Generationen berücksichtigen. Leider passiert dies nicht in ausreichendem Maße.

Aufgrund des Ukraine-Krieges und des Gaslieferstopps durch Russland scheinen die Bedingungen für die erneuerbaren Energien in Deutschland eigentlich so gut wie nie zu sein. Braucht es vielleicht solche Krisen, um einen echten Wandel zu gestalten?
Scheinbar braucht es schreckliche Krisen, um wach zu werden. Aber: Ausreichend gehandelt wird immer noch nicht. Wir alle zahlen den Preis der verschleppten Energiewende. Ganz besonders die Ärmeren. Dabei wäre präventives Handeln so viel besser als reaktives. Die verschleppte Energiewende, die Klimakatastrophe, das Artensterben, die Pandemie, die Demokratie- und Wirtschaftskrise: Wie viele Krisen brauchen wir denn noch? Sicherlich ist die Gaskrise ein großer Weckruf, aber sie hat auch zwei Seiten. Hohe Preise für fossile Energien lassen Energiesparen und erneuerbare Energien attraktiver werden. Aber auch das Bohren nach Öl und Gas und Kohleabbau werden ebenso finanziell attraktiv.

Das heißt, aufgrund des Krieges gewinnen „schmutzige Energien“ wieder an Bedeutung?
So ist es. Überall auf der Welt wird wieder vermehrt nach Öl und Gas gebohrt und Kohle abgebaut. Selbst Deutschland baut überflüssige überdimensionierte Flüssiggas-Terminals, will in der Nordsee im Naturschutzgebiet nach Gas bohren und vereinbart fossile Gas-Lieferungen mit fragwürdigen Partnern. Das geht in die völlig falsche Richtung. Wenn wir so weitermachen, kommen wir aus den vielen Krisen gar nicht mehr heraus.

Wer sind in Ihren Augen die entscheidenden Akteure, um der Energiewende einen großen Schub zu geben? Die Politik, die Wirtschaft oder die Verbraucher?
Alle. Verbraucher haben es in der Hand, durch aktive Kaufentscheidungen und Verhaltensänderungen die Unternehmen zum Handeln zu zwingen. Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Die Subventionen für fossile Energien noch immer viel zu hoch. Umweltabgaben viel zu niedrig. Und Unternehmen müssen die Wirtschaft transformieren, auf erneuerbare Energien umstellen, Energie einsparen sowie grünen Wasserstoff herstellen und nutzen. Somit sind alle Teil der Lösung. Alle zusammen, nicht einer allein.

Können die Energieversorger selbst auch einen wesentlichen Beitrag für die Energiewende leisten? Inwieweit sind sie beispielsweise vorbereitet auf eine in Zukunft vermutlich stärkere dezentrale Energieerzeugung?
Selbstverständlich. Die Energieversorger stellen ja auch so langsam endlich um und erhöhen den Anteil erneuerbarer Energien. In Kombination mit digitalem Energie- und Lastmanagement und dem vermehrten Einsatz von Energiespeichern werden mehr und mehr neue Geschäftsmodelle geschaffen, auch dezentrale. Die Energiewende ist dezentral, flexibel, digital und vernetzt. Die Energieerzeugung von Bürgern ist somit auch wichtig, genauso wie die von kommunalen Unternehmen.

Was würden Sie sagen, sind die wichtigsten zwei oder drei strategischen Hebel, um die erneuerbaren Energien und die nachhaltige Energieversorgung entscheidend voranzubringen? Was braucht es zum Beispiel, damit der Ausbau von Windkraft und Solaranlagen schneller vorangeht?
Es werden noch immer zu wenig Flächen für Windenergie ausgewiesen. Die Genehmigungsverfahren sind zu kompliziert, fehleranfällig und damit angreifbar. Sie müssen entschlackt, vereinfacht und juristisch eindeutig umgesetzt werden, sodass alle Belange, vor allem des Natur- und Artenschutzes ausreichend berücksichtigt werden. Akzeptanzsteigernd sind vor allem Partizipationsmöglichkeiten, die über Bürgerenergien oder aber durch finanzielle Vorteile – wie sinkende Strompreise – erreicht werden können. Auch bei der Solarenergie gilt es, die Verfahren zu erleichtern. Das größte Hemmnis wird allerdings zunehmend der Fachkräftemangel. Hier gilt es dringend gegenzusteuern.

Laut Expertenrat für Klimafragen müsste der Industriesektor seine jährlichen Emissionseinsparungen etwa verzehnfachen, damit die deutschen Klimaziele bis 2030 noch erreicht werden könnten. Im Verkehrssektor müsste der Ausstoß pro Jahr sogar um das 14-Fache reduziert werden. Wie könnte das gelingen? Kann die Energiewende nur durch Verzicht gelingen – Verzicht auf Gewinne, Mobilität und Komfort?
Die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir sie nicht weiter ausbremsen und die Rahmenbedingungen so anpassen, dass sie überhaupt gelingen kann. Im Verkehrssektor geht es auch, wie ich bereits erwähnte, um Verkehrsvermeidung. Verkehrswende beutet, dass nicht mehr wie bisher 90 Prozent aller Fahr- bzw. „Stehzeuge“ herumstehen, sondern Mobilitätsdienstleistungen im Vordergrund sind. Wenn alle Menschen Zugang zu preislich erschwinglicher und attraktiver Mobilität haben, ist das ein Gewinn. Im Industriesektor gibt es gigantische Chancen.

Angesichts der Dringlichkeit der Transformation der Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität darf Deutschland nicht im Aktivismus um kurzfristige Unternehmenshilfen stecken bleiben. Entscheidend ist vielmehr, dass jetzt schnell und effizient eine industriepolitische Strategie für den Umbau der Industrie umgesetzt wird. Wenn die Produktionsprozesse dekarbonisiert werden und die Industrie in Energieeffizienztechnologien und Energiesparprogramme investiert sowie in den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien, kann eine dauerhaft nachhaltige und resiliente Wirtschaft entstehen und bestehen.

Mit der Energiewende, also weg von fossilen Energien hin zu Energieeffizienz und erneuerbaren heimischen Energien sowie Lieferketten, kann die deutsche Industrie dauerhaft gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Was erwarten Sie von der Politik diesbezüglich vor allem?
Entschlossenes und schnelles Handeln. Wir sind in einer Zeitenwende. In puncto Energie wird dem derzeit nicht ausreichend Rechnung getragen.

Und wo gibt es für Sie Zeichen der Hoffnung?
Bei den Menschen. Ich erlebe viel Verständnis und Solidarität. Das gibt Hoffnung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 01/2022

 

Autorin

Prof. Dr. Claudia Kemfert
ist eine der profiliertesten Energieökonominnen Deutschlands. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Sie ist zudem Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Bis 2019 war sie Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Von 2004 bis 2009 hatte sie die Professur für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität inne. Claudia Kemfert hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht. „Schockwellen: Letzte Chance für sichere Energien und Frieden“ ist der Titel ihres aktuellen Buches.
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Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes – das ist die Wahrheit – hängt stark an der Modernisierung und insbesondere Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Die Aussichten sind aber leider trüb – trotz der langsamen Fortschritte, die es durchaus gibt.

Alltag ist jedoch eher noch, dass wir zum Beispiel für den Personalausweis- und Reisepassantrag persönlich in der Behörde auftauchen müssen. Als mit Beginn des Ukraine-Krieges zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, wurden einem die Unzulänglichkeiten der Verwaltung hierzulande noch mal deutlich vor Augen geführt. Ukrainerinnen und Ukrainer können nämlich in ihrem Land fast alle Behördensachen online über das Mobiltelefon erledigen. In Deutschland hingegen ist das Wort „Behördengänge“ wörtlich zu nehmen. Wir assoziieren Verwaltung mit tristen, unübersichtlichen grauen Gebäuden, in denen man stundenlang sitzt und sehnlichst wartet, bis die eigene Wartenummer irgendwo aufblinkt. Wir sollten uns nicht daran gewöhnen.

Eigentlich hätten die Behörden die meisten Verwaltungsdienstleistungen bis Ende 2022 gemäß des Onlinezugangsgesetzes bundesweit digital anbieten müssen. Sie haben es nicht geschafft.

Doch selbst wenn ein Prozess als vermeintlich digitalisiert abgehakt werden kann, sieht die Realität bei genauerem Hinsehen meist erbärmlich aus. Das beste Beispiel dafür sind die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG).

Die BAföG-Leistungen können seit 2021 über eine Plattform digital beantragt werden. Allerdings sind die Probleme damit größer geworden. Es kommt zu erheblichen Verzögerungen bei den Genehmigungen. Die Anträge müssen nämlich von den zuständigen BAföG-Ämtern der Studierendenwerke ausgedruckt werden. Es wurde also nur die Antragstellung digitalisiert, die Prozesse dahinter nicht. Fehlendes Personal und zu wenig Papier intensivieren die Problematik.

An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass Digitalisierung oft nicht wirklich durchdacht erfolgt. Im Falle des BAföGs wurde nur der Teilprozess der Antragstellung betrachtet, „die Schauseite“. Es ging lediglich darum, die Vorgabe zu erfüllen.

Digitale Transformation zu gestalten, heißt jedoch, ganzheitlich zu denken und zu handeln. Das gilt sowohl für Behörden als auch Unternehmen. Bezüglich der Prozesse bedeutet ganzheitlich beispielsweise, die Prozesse nicht isoliert zu sehen, sondern end-to-end: Man fängt bei den Kunden an und hört bei den Kunden wieder auf – bis sie die angefragten Leistungen erhalten haben und zufrieden sind. Wer Digitalisierung vorantreiben will, sollte also die Gelegenheit nutzen, die Prozesse generell auf den Prüfstand zu stellen. Sind diese effizient und kundenzentriert?

Herausforderungen und Tätigkeiten der anderen

Und auch die Strukturen müssen entsprechend der End-to-end-Prozesse geprüft werden. Doch egal wie die Organisationsform letztlich aussieht: Erfahrungsgemäß gibt es ein enormes Potenzial bei der Gestaltung der Schnittstellen. Es wird meist zu wenig miteinander geredet und es gibt zu wenig Kenntnis über die jeweils anderen Bereiche.

Ganzheitlich denken und handeln betrifft viele Dimensionen: Anreizsysteme, Führung, Kultur und Kompetenzen sind ebenfalls wichtig bei der digitalen Transformation. Und nicht zuletzt braucht es die vernetzte Nutzung von Daten als Basis für kundenzentrierte Produkte und Dienstleistungen. Ein Riesenhindernis im öffentlichen Bereich.

Im Rahmen der Digitalisierung müssen einige Stellschrauben gedreht werden. Mit dieser Aufgabe lediglich einen Arbeitskreis zu betrauen, reicht nicht aus. Sowohl Behördenchefs und -chefinnen als auch CEOs müssen sich mit den ganzheitlichen Anforderungen einer digitalen Transformation auskennen und Verantwortung dafür wahrnehmen. Und sie müssen spätestens heute mit der Veränderung beginnen. [JCW]

 

Seit einigen Jahren verändern Informationstechnologien, Maschinen mit künstlicher Intelligenz und neue Medien nicht nur Märkte, Branchen und Geschäftsmodelle, sondern auch Produktionsprozesse und Kundenbeziehungen ebenso wie die Formen des Zusammenlebens und -arbeitens. Dr. Rainer Zeichhardt befasste sich im Beitrag „Kulturanalyse im digitalen Wandel“ damit.

Für die einen Allheilmittel, für die anderen völlig überbewertet: Tools und Methoden im Change. Wir fühlen Expertinnen und Experten auf den Zahn und wollen ihre Sicht der Dinge sowie einige Tipps erfahren. Diesmal fragen wir Gabriel Rath.

Mal ehrlich, Tools und Methoden werden im Rahmen von Veränderungen überschätzt! Richtig?

Ich erlebe das auch oft so, dass man unter der Überschrift der Digitalisierung Change-Vorhaben anschiebt, die dann als IT-Projekte starten. Da geht es dann oft um Tools, leider selten um die Kultur. Das ist auch nachvollziehbar, denn mit Tools hat man schon mehr Erfahrungen gesammelt, kann besser „wiegen und messen“. Sich aber ins Risiko zu begeben und Neues zu wagen, ja zu experimentieren, trauen sich viele leider zu selten.

Du bist seit September 2022 Referent für Organisationsentwicklung beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband. Welche Formate und Methoden haben dir beim Onboarding geholfen?

Ich fand es sehr angenehm, dass wir schon vor dem ersten Kennenlernen einfach auf LinkedIn geschrieben und uns dort im Chat auch zum ersten Coffee Call verabredet haben. Das hätte ich gar nicht erwartet. Methodisch gefällt mir der Dreiklang eines Kick-off Gesprächs zu Beginn, bei dem die Aufgaben besprochen werden; dann gibt es nach drei Monaten ein Standortgespräch und nach einem halben Jahr schauen sich beide Parteien in die Augen und jeder sagt ehrlich, was Sache ist. Man bleibt im Dialog. Das habe ich aber auch schon anders erlebt in meinen Onboardings bei früheren Arbeitgebern.

Du warst einmal Marketingmanager bei der Ostseesparkasse Rostock. Gibt es Parallelen zwischen Marketing und Organisationsentwicklung?

Marketing ist in erster Linie Überzeugungskommunikation. Es geht darum, Lösungen für die Kund:innen herauszuarbeiten, umzusetzen und das dann gut zu kommunizieren. Jetzt arbeite ich mit den Mitarbeitenden und verstehe diese aber auch als Kund:innen. Ich versuche zu verstehen, was sie bewegt, was sie stört und was sie sich wünschen, und versuche mit meinen Kolleg:innen Räume für Neues zu eröffnen. Am Ende geht es also in beiden Welten um die lösungsorientierte Verbesserung der jeweiligen Erfahrung.

Denkst du, Methoden und Formate können helfen, Kulturwandel voranzutreiben?

Sie gehören jedenfalls dazu. Aus meiner Erfahrung kommt aber auch dem Recruiting eine Schlüsselrolle zu, denn gerade neue Leute mit anderen Perspektiven bringen erst die notwendige Reibung, die es braucht, um sich zu verändern.

Du betreibst den Podcast „New Work Chat“. Macht der Einsatz von Podcasts auch in der Kommunikation im Rahmen einer Transformation Sinn?

Absolut. Ich bin ja gerade dabei, einen neuen Podcast für die interne Kommunikation hier im DSGV zu starten. Es geht um neue Narrative, positive Storys und viele verschiedene Blickwinkel. So werden bestenfalls Themen besprechbar gemacht, die lange als „Elefant im Raum“ ignoriert wurden. Und Podcasts kann man ebenso wunderbar auf dem Weg hören. Im Gegensatz zu meinem „New Work Chat“-Podcast wird der DSGV-Podcast aber etwas knackiger. Wir setzen auf kurze Folgen, die nur 10 bis 15 Minuten gehen. Zu Gast sind die, auf die es ankommt – die Mitarbeitenden aus allen Ecken der Organisation.

Man lernt ja doch hin und wieder die ein oder andere neue Methode oder einen neuen Ansatz in Bezug auf Organisationsentwicklung kennen. Wann hattest du diesbezüglich das letzte Mal ein Aha-Erlebnis?

Für mich war es jedenfalls ein Gamechanger, als wir in der Coronazeit auf virtuelle Meetings umstellten und anfingen, dort mit Check-ins zu arbeiten. Das möchte ich heute nicht mehr missen. Wir bekommen so eine Ahnung für die anderen, die wir vorher ganz aus der Arbeit rausgelassen hatten. Ich nutze diese Methode mittlerweile auch in Workshops und gelegentlich sogar in der Familienzeit am Abendbrottisch.

Und bei der Anwendung welcher Methode warst du zuletzt ganz besonders wirksam?

Da sollte man vielleicht besser meine Kolleg:innen fragen. Aber Spaß beiseite. Ich habe den Eindruck, dass wir in unserem Verband gerade mit Kanban Riesenschritte machen. Und wir haben erst vor Kurzem Conceptboard als Tool eingeführt und nutzen es nun ausgiebig, um Transparenz in unsere Projekte zu bringen.

Welches Buch, welchen Podcast oder Video-Channel kannst du in Bezug auf Themen wie Transformation oder Change empfehlen?

Es lohnt sich natürlich, in meinen Podcast „New Work Chat“ reinzuhören. Ich mache das Format in Eigenregie seit 2018 und veröffentliche jede Woche freitags eine neue Folge. Für mich ist es das Nummer-1-Lerntool geworden, da ich denen, die ich inspirierend finde, meine Fragen stellen darf. Ansonsten schätze ich es, vielen Experten auf LinkedIn zu folgen und mich mit ihnen in den Kommentaren auszutauschen.

 

 

Autor

Gabriel Rath
ist Referent für Organisationsentwicklung beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV). Zudem ist er Gastgeber des Podcasts „New Work Chat“ und Co-Gründer der Crowdfunding-Initiative „Eisbademeisters“.
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Ihnen hat das Format „Tools und Methoden im Change“ gefallen? Hier finden Sie einen weiteren Beitrag dazu: „Mal ehrlich: Methoden für HR“.

Michael von Roeder ist ein echter Change Maker, der bei Veränderungen „hart am Wind segelt“. Mit der digitalen Transformation des Stromnetzbetreibers 50Hertz hat er als Chief Digital und Information Officer derzeit eine herausfordernde Aufgabe. Und dennoch sagt er, man müsse alles infrage stellen. Im Interview spricht der Transformationsgestalter über das Spannungsfeld, in dem er sich bewegt, über lange Genehmigungsverfahren und darüber, was er die vergangenen Jahre in Sachen Change persönlich gelernt hat.

Herr von Roeder, wir alle leben in dynamischen Zeiten. Es gibt um uns herum viele Veränderungen in scheinbar immer kürzeren Zyklen. Wie gehen Sie persönlich damit um? Was machen die vielen Veränderungen mit Ihnen?
Ja, auch ich persönlich bin von einigen Veränderungen betroffen. Doch ich muss sagen: Mir gibt Change Energie. Ich habe in meinem Leben viele verschiedene Dinge gemacht. Das kann man auch an meinem Lebenslauf sehen. Ich war selbstständig, als Freelancer tätig, in einem Start-up, in Corporates, in einer Unternehmensberatung – überall, wo man so arbeiten kann.

Die vielen Veränderungen, von denen Sie sprechen, betreffen aber nicht nur mich persönlich, sondern auch meine Mitarbeitenden. Ihnen möchte ich die notwendige Sicherheit geben, eine „Safe Base“, um sich auf die Veränderungen einlassen zu können. Dass das wichtig ist, habe ich allerdings erst vor anderthalb Jahren verstanden.

Wie kam das?
Ich habe im Urlaub das Buch „Care to dare“ gelesen. Der Titel meint sinngemäß: Sicherheit herstellen, um dann die Menschen herauszufordern – im positiven Sinne. Ich hatte es bis dahin immer anders gemacht: meistens nur „dare“. „Care“ war mir nicht so wichtig. Das hat allerdings sehr oft nicht funktioniert. Ich habe einen echten Erkenntnisprozess durchgemacht. Nämlich, dass die Menschen erst einmal eine sichere Basis brauchen, von der aus sie die Veränderungen mitgehen können.

Und das beherzigen Sie nun auch bei 50Hertz?
Ja, absolut. Wir sind gerade dabei, die Organisation umzubauen. Im Rahmen dessen habe ich mit meinem Management-Team beispielsweise ein Zielbild entwickelt für die nächsten drei Jahre. Mir war wichtig, dass sie wissen, wo ich hinwill – volle Transparenz. Und ich habe ihnen auch gesagt: „Was auch immer passiert und egal, welche Jobtitel ihr haben werdet, ihr werdet mein Management-Team bleiben.“

Warum haben Sie das gesagt?
Eine Führungskraft denkt bei einem großen Change immer auch darüber nach, inwieweit die Veränderung sie selbst betrifft – egal wie professionell sie agiert. Mit dieser Zusicherung von mir konnte ich dem einen Riegel vorschieben. Das Team muss nicht mehr darüber nachdenken, was die Veränderung für sie persönlich bedeutet.

Seit wann sind Sie in Ihrem Job?
Seit mehr als drei Jahren. Vorher war ich bei einem kleinen Unternehmen, 50 bis 60 Leute, sehr Purpose-getrieben, nah am Unternehmenszweck. Bei 50Hertz sind es über 1.400 Mitarbeitende, in der gesamten Elia Group 2.600 fest angestellte Beschäftigte. Die Branche ist aus guten Gründen risikoavers und lief lange im „Geradeausbetrieb“. Durch die neue Bundesregierung und durch den Ukraine-Krieg ist nun ein Höllendruck im System. Es gibt einen Zwang zur Veränderung. Das ist auch allen bewusst. Nur, wie weitgehend diese Veränderung sein wird, das ist noch nicht allen klar. Es gibt oft immer noch die Einstellung „Lasst uns nur so viel wie nötig verändern“.

Ich sage aber: Wir müssen alles infrage stellen.

Wir brauchen eine Vorstellung davon, wo wir hinwollen in den nächsten zehn Jahren. Dann können wir überlegen, wie wir dahinkommen. Das ist kein evolutionärer Ansatz, sondern man kommt vom Ziel und arbeitet sich dann von hinten nach vorne vor. Bei einem solchen Vorgehen muss man allerdings aufpassen, die Menschen nicht zu überfordern. Ich meine hier vor allem eine emotionale Überforderung.

In Ihrer Rolle müssen Sie also einen Balanceakt hinbekommen: Sicherheit geben und gleichzeitig die Menschen herausfordern und die Notwendigkeit der Veränderung klarmachen?
Absolut. Und am Ende muss man es auch vorleben. Meine Herausforderung ist es, die Verbindung herzustellen zwischen dem Heute und der Vision, die skizziert, wo es hingehen soll. Wir müssen nicht übermorgen alles anders machen. Aber wenn wir bis 2032 hundert Prozent erneuerbare Energien im 50Hertz-Netz haben und bis 2050 in Europa dekarbonisiert sein wollen, dann bedingt das einen gewissen Zeitablauf. Und wir sind derzeit hintendran.

Das Gute ist jedoch, dass die Veränderungen in exponentieller Geschwindigkeit passieren. Wenn wir zum Beispiel von drei Jahren Change sprechen, dann passiert in den ersten beiden Jahren gefühlt überhaupt nichts. Denn in erster Linie werden in dieser Zeit Grundlagen gelegt. Es wird am Mindset gearbeitet und Vertrauen aufgebaut. Erst dann fängt es an, sich zu beschleunigen.

„Think big, start small, scale fast.“

Das ist der Dreiklang, den wir hier anwenden. Früher habe ich zu viel „think big“ gemacht und zu wenig „start small“, vor allem aber zu wenig erklärt. Seit ich das verändert habe, funktioniert es besser.

50Hertz betreibt das Stromübertragungsnetz im Norden und Osten Deutschlands und baut es für die Energiewende nun aus. Warum ist der Ausbau notwendig?
Der Ausbau ist nötig, weil wir in Deutschland zukünftig erneuerbare Energien vor allem im Norden erzeugen werden – viel mehr, als dort gebraucht werden. Und im Süden wird weniger erzeugt, als dort nötig wäre. Das bedeutet, wir müssen die Energie von Norden nach Süden bringen. Es gibt derzeit drei große 50Hertz-Projekte, die dafür sorgen sollen, dass riesige Strommengen über Gleichstromverbindungen in den Süden Deutschlands transportiert werden.

Des Weiteren müssen wir innerhalb des 50Hertz-Netzgebietes ausbauen, weil immer mehr Windkraft- und Solaranlagen ans Netz angeschlossen werden. Beispielsweise konnten wir vor Kurzem endlich das erste Teilstück der sogenannten Uckermark- Leitung in Betrieb nehmen, die nach Berlin führt. 17 Jahre dauerte das Planungs- und Genehmigungsverfahren. Sie sehen: Die Planungs- und Genehmigungsverfahren sind noch viel zu langsam. Dass das so nicht bleiben kann, ist von der Politik zum Glück erkannt. Die neue Regierung hat mit zwei Gesetzespaketen mittlerweile mehr Gesetzesänderungen im Energiesektor vorangebracht als alle Regierungen in den 30 Jahren davor.

Und was bedeutet der Ausbau für Ihre eigene IT-Landschaft?
Der Ausbau, aber vor allem das Ziel, hundert Prozent erneuerbare Energien durch unsere Netze laufen zu lassen, haben enorme Auswirkungen für einen Großteil unserer IT. Nehmen Sie als Beispiel die notwendige Digitalisierung der Genehmigungsverfahren.

Aber das ist nicht die Aufgabe von 50Hertz, oder? Da sind Sie abhängig von anderen.
Nur weil es nicht unsere unmittelbare Aufgabe ist, heißt das ja nicht, dass wir nicht mithelfen können. Heute braucht man bis zu drei voll beladene Transporter, um eine Leitung von den Behörden genehmigen zu lassen. Diese Transporter sind voll mit Antragsformularen und Dokumenten – aus Papier. Circa 36.000 Seiten. Und in den Behörden wird erst angefangen zu lesen, wenn der Antrag vollständig vorliegt. Das ist unfassbar.

Und übrigens: Digitalisierung heißt nicht, dass der Antrag einfach als PDF verschickt wird. Sondern die echte Digitalisierung würde beispielsweise bedeuten, dass gemeinsam – von Behörde und Antragsteller – an der Genehmigung gearbeitet wird. Das Dokument wird geteilt, zum Beispiel, wenn die Gliederung steht, und dann wird zusammen im iterativen, agilen Prozess der Antrag vorangebracht. So stelle ich mir das zumindest vor.

Bis es so weit ist, gibt es natürlich einige Hürden zu überwinden. Wir haben große Veränderungen vor uns – und wir müssen schnell sein. In Bezug auf die IT-Landschaft müssen wir uns fragen, wie wir die Systeme so gestalten können, dass sie unter Einhaltung aller Sicherheitsrichtlinien eine solche Kollaboration erlauben.

Die Auswirkungen auf unsere IT-Landschaft betreffen aber selbstverständlich nicht nur den Bereich Genehmigung, sondern auch das Planen und Bauen. Beispielsweise ist eine Leitung eine mehrere Hundert Kilometer lange Baustelle, an der wir an zahlreichen Stellen gleichzeitig tätig sind und durch Tausende von Grundstücken müssen. Sie können sich vorstellen, dass man diesbezüglich einiges mit digitalen Technologien machen kann.

Sie haben von Kollaboration im Rahmen der Genehmigungsverfahren gesprochen. Aber Digitalisierung heißt nicht zwingend kollaborativ zu arbeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Kritik an einem solchen Vorgehen groß ist, weil die Rollen vermischt werden. Die Behörde hat eine andere Aufgabe und Verantwortung als 50Hertz.
Digitalisierung ist meiner Meinung nach in erster Linie keine Frage der Technologie, sondern es geht vor allem um die Art der Arbeit. Es gilt, in integrierten Teams agil zu arbeiten. Und wo steht geschrieben, dass das an Unternehmensgrenzen Halt machen muss? Es ist natürlich schwierig. Aber nur, weil es schwierig ist, heißt es nicht, dass wir es nicht angehen sollten. Unsere Gesellschaft muss lernen – bei Einhaltung der notwendigen Governance-Vorschriften – diese Grenzen zu überwinden. Das heißt nicht, auf die jeweiligen Verantwortlichkeiten zu verzichten.

Wir müssen darüber reden. Aber gemeinsam und nicht jeder in seinem stillen Kämmerlein.

Zwischen „Leitz-Ordner hin- und hertragen“ und kollaborativ digital zusammenarbeiten liegen einige Schritte. Es ist die Frage, ob wir es uns noch leisten können, Zwischenschritte zu gehen. Ich weiß es nicht. Vielleicht müssen wir sie uns sogar leisten. Ich möchte aber mal in Erinnerung rufen, dass Tesla innerhalb von zwei Jahren eine Fabrik in Grünheide bauen konnte. Das war nur möglich, weil mit den Behörden kollaborativ gearbeitet wurde. Es geht also durchaus. Mir ist vor allem wichtig, dass nicht gegeneinander gearbeitet wird und jeder nur auf seine eigene Verantwortlichkeit schaut und diese abgrenzt von dem Bereich des anderen. Dieses Pingpong erzeugt die Friktion, die uns langsam macht.

Die Zusammenarbeit in Ihrem eigenen Unternehmen, beispielsweise zwischen IT und Business, muss sich allerdings auch verändern.
Ja, und zwar dramatisch. Ich glaube, dass die Verantwortung für die Digitalisierung des Business auch im Business liegen muss. Der Weg dorthin geht über eine Dezentralisierung der IT. Die Kern- IT schafft eine digitale Plattform, auf der dezentrale im Fachbereich verortete Produkt-Teams Software bauen können. Die Software-Entwickler kommen zwar aus meinem Bereich, sie verbringen jedoch 80 bis 90 Prozent ihrer Zeit als Mitglied in einem Produkt-Team, das vom Business geführt wird.

Hintergrund ist vor allem, dass wir IT-Kompetenz und beispielsweise die Fähigkeit, mit Daten umzugehen, im Business aufbauen müssen. Nur dann ist es möglich, den Fachbereich zu transformieren, sonst denkt der Fachbereich nur in Software-Paketen, die ihnen die IT liefern soll.

Wir arbeiten „Business-led“, also vom Business geführt. Das zweite große Thema, um den Wandel voranzutreiben, nennt sich „Citizen Development“. Das Business wird befähigt, auch ohne IT-Entwickler selbst softwarebasierte Anwendungen zu erstellen. Mit den heutigen Technologien ist es möglich, vollkommenes Chaos entsteht. Damit sind dann hochagile Iterationen möglich, ohne ständig bei der IT ein neues Projekt aufsetzen zu müssen.

Die IT hat dann keine Dienstleister-Funktion mehr?
Doch. Wir stellen die Plattform zur Verfügung und die betreiben wir auch. Und natürlich kommen die Rechenzentren, die Wide- und Local-Area-Netzwerke weiterhin von uns. Auch wer wo was macht, werden wir weiter koordinieren. Wir wollen keine Doppelarbeit.

Diese Produkt-Teams mit ITlern, von denen Sie gesprochen haben, sind bei Ihnen aber noch nicht weit verbreitet. Sie haben ja auch gesagt, dass 50Hertz ein eher klassisches Unternehmen ist. Wie gelingt die Implementierung dennoch?
Wir sind am Anfang. Sie brauchen zu Beginn auf der Business-Seite einen Verbündeten, der bereit ist, die Veränderung zu wagen. Den hatte ich. Er hatte sogar die Idee dazu. Er war damals Abteilungsleiter und ist jetzt Bereichsleiter. Ich fand seine Idee spannend und bin damit auf seinen Chef, meinen Geschäftsführungskollegen Dirk Biermann, zugegangen, der für Märkte und Systembetrieb zuständig ist. Es war natürlich wichtig, dass wir ihn ebenfalls dafür gewinnen, ein gemischtes Produkt-Team aufzusetzen, das auf Basis einer Plattform arbeitet, mit der das Stromnetz gesteuert wird. Das war vor etwa zweieinhalb Jahren.

Hat der 50Hertz-CE O, Stefan Kapferer, das Vorhaben unterstützt?
Ja. Wir haben ein ähnliches Wertegerüst und ergänzen uns hinsichtlich der Skills, die für eine Transformation nötig sind, sehr gut. Er kommt eher aus der Politik, kann ein Thema gut vermitteln und politisch verankern. Ich komme aus dem Technologiesektor und bringe Fähigkeiten zur Digitalisierung und rund um neue Arbeitsweisen mit.

Es gab dennoch Widerstände im Unternehmen gegen das Vorhaben. Ein dickes Fell war durchaus nötig. Und ich war stets bereit, dieses Projekt zu schützen und habe immer wieder betont, dass alle, die etwas dagegen haben, sich an mich wenden sollen. Es ist keiner gekommen.

Wenn sie gekommen wären, hätte 50Hertz auch eine sehr reife Unternehmenskultur.
Natürlich passiert auch viel hinter den Kulissen. Dann gilt es, Kurs zu halten. Auf die Frage, wie man das neue Arbeiten implementieren kann, antworte ich deshalb: Es ist von immenser Bedeutung, dass man ein Beispiel, ein Projekt durchzieht. Erzählen ist gut, zeigen ist besser.

Es braucht ein Erfolgsbeispiel. Das Team durfte auch machen, was es wollte – mit der expliziten Erlaubnis und Unterstützung von mir. Was herausgekommen ist, ist ein Team von etwa 50 Leuten mit einer starken Identität. Nun sind wir im dritten Jahr und mittlerweile kommen sogar Menschen außerhalb unseres Unternehmens zu uns, um sich diese digitale Plattform zur Steuerung des Stromnetzes anzuschauen. Mitarbeitende reden darüber auf Konferenzen. Und das ist gut so. Es ist wichtig, den Leuten zuzutrauen, dass sie das Richtige tun. Sie brauchen ein klares Zielbild und müssen befähigt werden, sodass sie in der Lage sind, den Weg dorthin zu gehen – ruhig auch mal im Zickzack.

Haben die zweieinhalb Jahre Arbeit des Produkt- Teams den Mehrwert gebracht, den Sie sich für das Unternehmen erhofft haben?
Ja. Wir sehen, dass die Fähigkeiten, die dieses Team erarbeitet hat, auch in einem völlig anderen Geschäftsbereich Anwendung finden können, nicht nur in der Systemführung, sondern ebenfalls im Offshore-Bereich. Damit haben wir nun zu 80 Prozent ein „Re-use“ der Software und wir haben die Geschwindigkeit erhöht. In Belgien und Schweden sieht man ebenfalls, dass man die Software verwenden kann. Das heißt, die andere, neue Art zu arbeiten verbreitet sich – ohne Zwang. Es reichen Transparenz und Freiwilligkeit.

Aber auch die Führungskräfte, die im zweiten Durchgang bereit sind, das Neue zu übernehmen, brauchen ein offenes Mindset.
Ja, absolut. Wir nehmen zunächst die „Low hanging fruits“ und gewinnen die Führungskräfte, die offen sind. Ich habe vorhin gesagt, dass das erste Produkt-Team machen konnte, was es wollte. Auf Dauer geht das natürlich nicht im Unternehmen. Wir entwickeln nun ein „Product Operating Model“ mit dem Ziel, die neue Zusammenarbeit in allen Bereichen des Unternehmens zu etablieren. In zwei Pilotbereichen haben wir damit angefangen. In Deutschland macht zum einen das erwähnte Team die Software zur Systemführung für das ganze Unternehmen. Und zum anderen gibt es ein weiteres Team in Belgien, das auf dieselbe Weise zu Customer Centricity arbeitet. Anhand dieser beiden Teams werden jetzt beispielsweise Fragen zu Budgetierung und Personal bearbeitet, die vorher beim Prototypen noch unbeantwortet geblieben sind.

Wo stehen Sie in Bezug auf den kulturellen Wandel bei 50Hertz insgesamt? Wie groß ist der Anteil, der cross-funktional, agil, weitgehend selbstorganisiert und mit einem offenen Mindset arbeitet?
In dem erwähnten Bereich sind wir sehr weit, bei etwa 80 Prozent. Da fehlen noch die Support-Bereiche HR, Finance, Einkauf. Das sind die nächsten, die dran sind. Aber auch erst einmal nur in Bezug auf den Bereich des Pilot-Teams. Man kann nicht den gesamten Einkauf oder die gesamte HR auf einmal ändern. Das sind die verbleibenden 20 Prozent. Insgesamt liegen wir im Unternehmen vielleicht bei zehn Prozent. Inzwischen melden sich jedoch mehr Bereiche, die mitmachen und Produkt-Teams gründen wollen, als wir momentan verdauen können.

Was bedeutet der Wandel für die Führungskräfte? Behalten sie ihre disziplinarische Macht oder müssen sie was abgeben in Zukunft?
Das ist genau der Wandel, vor dem wir derzeit stehen. Die Führungskräfte werden immer disziplinarische Verantwortung haben, aber in Zukunft eine andere. Ich werde vorangehen und meinen Bereich als Erstes reorganisieren. Bisher haben meine Führungskräfte vor allem eine funktionale Verantwortung. In Zukunft werden sie als Chapter Heads agieren. Sie werden die Verantwortung für zum Beispiel alle Entwicklerinnen und Entwickler, alle Architekten oder alle Security-Mitarbeitenden haben. Die Mitglieder der Chapters werden aber die meiste Zeit in besagten Produkt-Teams in ganz anderen Bereichen arbeiten. Die oder der Chapter Head hat vor allem die Aufgabe Talente zu finden, zu behalten, weiterzuentwickeln und ihnen eine fachliche Heimat zu bieten, wo sie sich austauschen können.

Wie in vielen anderen eher klassischen Unternehmen wird auch bei 50Hertz der Betriebsrat in puncto Transformation eine wichtige Rolle spielen. Wie ist Ihr Verhältnis zum Betriebsrat als jemand, der häufig „hart am Wind segelt“?
Ich würde sagen, ich habe ein interessantes Verhältnis zum Betriebsrat. Es gibt teilweise Themen, da bin ich mit dem Betriebsrat einig, aber mit dem Rest der deutschen Geschäftsführung nicht. Dann gibt es wiederum andere Themen, bei denen ich mit dem Betriebsrat überhaupt nicht einig bin.

Klar ist: In mitbestimmten Unternehmen kann man keine größeren Veränderungen am Betriebsrat vorbei gestalten – auch wenn das häufig bedeutet, dass die Prozesse länger dauern. Dennoch würde ich sagen, dass das deutsche System der Mitbestimmungm grundsätzlich sehr gut funktioniert – wenn beide Parteien an den Mitarbeitenden interessiert sind und nicht an den eigenen Positionen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

 

Autor

Michael von Roeder
ist Chief Digital und IT Officer bei 50Hertz. Seit 2019 ist er als Mitglied der Geschäftsleitung und Mitglied des Steuerungsgremiums der belgisch-deutschen Elia Group für die IT und die digitale Transformation in der Gruppe zuständig. Er war zuvor CEO von Sensorberg. Bis Mitte 2016 verantwortete er den IT-Betrieb von Vattenfall. Von 2009 bis 2010 leitete er als COO und Geschäftsführer die iconmobile Gruppe.
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Welche Strukturen braucht ein Unternehmen, um die digitale Transformation voranzutreiben? Lanxess hat sich für eine eigenständige Digitaleinheit im Konzern entschieden, die als Impulsgeber und Innovationstreiber agiert. Im folgendem Beitrag wir dies erläutert: „Digitale Transformation bei Lanxess“.

Jede Veränderung ist anders – auch ihr Scheitern. Dennoch lassen sich manche Ursachen für den Misserfolg besonders oft in Unternehmen beobachten. Hier sind sieben Punkte für das Scheitern von Change.

1. Die Chefetage zieht sich aus der Verantwortung

Es kommt bei jedem Veränderungsvorhaben irgendwann der Punkt, an dem es das Commitment der oberen Führungsebene braucht, damit allen in der Organisation klar wird, dass der Change ernst gemeint ist. Anderenfalls wird es immer wieder Gruppen geben, die Gründe anführen, warum sie ihr Verhalten nicht ändern müssen, oder die aus politischen Motiven Widerstand zeigen.

2. Es fehlt der Mut zur Priorisierung

In Unternehmen passiert oft zu viel gleichzeitig. Das ist auch bei Veränderungsvorhaben so. Die Folge ist, dass sich die Organisation verzettelt, zu viele Bälle in der Luft sind – ohne klaren Fokus und eindeutige Priorisierung. Ressourcen werden falsch eingesetzt oder verschwendet. Die Lösung wäre, Projekte zu begrenzen und erst Neues dazuzunehmen, wenn etwas anderes abgeschlossen ist.

3. Die Verantwortlichen kommunizieren nicht

Man kann bei größeren Veränderungsvorhaben nicht zu viel kommunizieren. Change-Kommunikation muss den Nutzen des Wandels erklären, Unsicherheiten reduzieren, Orientierung vermitteln. Und es muss auch Austauschmöglichkeiten geben. Menschen wollen gesehen und gehört werden. Change-Kommunikation ist zuerst Dialog und erst dann Information.

4. Es wird flächendeckend ausgerollt

Zu oft wird im stillen Kämmerlein analysiert und geplant, um dann flächendeckend auszurollen. In der Zwischenzeit haben sich aber schon wichtige Parameter verändert, die in der Planung nicht berücksichtigt werden. Deshalb gilt: Schritt für Schritt vorgehen. Zum einen sollte das Steuerungsteam sich immer wieder Feedback einholen und auf dieser Basis Verbesserungen vornehmen. Zum anderen lohnt es, sich zu testen, zum Beispiel mithilfe einer Pilotgruppe. Ihre Erfahrungen fließen dann in die weitere Konzeption ein.

5. Multiplikatoren werden nicht ausreichend einbezogen

Insbesondere in klassischen Unternehmen schauen die Mitarbeitenden zuerst darauf, wie sich die eigene Führungskraft verhält, sie fungiert als Vorbild. Wenn diese aber gar nicht einbezogen wurde und sie auch gar nicht auskunftsfähig ist, wird sie in der Regel auch nicht als Unterstützerin der Veränderung auftreten. Gerade bei schwierigen Change-Prozessen gilt es, Verbündete zu suchen, wichtige Change-affine Menschen in der Organisation, die bereit sind als Multiplikatoren aufzutreten. Dazu sollten auch Führungskräfte gehören.

6. Das „Warum“ der Veränderung ist nicht klar

Es ist erstaunlich, wie oft es in Unternehmen gar nicht allen klar ist, warum eine Veränderung stattfindet. Menschen brauchen aber dieses „Warum“, um die nötige Energie investieren zu können, die es für eine Verhaltensänderung braucht. Im besten Falle sind die Mitarbeitenden sogar überzeugt, dass der eingeschlagene Weg richtig ist, und sie wissen, welchen Beitrag sie in ihrem Bereich leisten (müssen), damit die Veränderung im Großen erfolgreich wird.

7. Man nimmt sich keine Zeit für Reflexion

Generell wird sich in den Unternehmen zu wenig Zeit für Reflexion genommen. Das bezieht sich unter anderem auf die eigenen Verhaltensmuster und mentalen Modelle, die eine Transformation erschweren können. Sich ihrer bewusst zu sein, ist die Voraussetzung, um sie ändern zu können. Aber auch inmitten des Veränderungsprozesses sollten regelmäßig
Retrospektiven und Reviews stattfinden, um Zusammenarbeit und Arbeitsergebnisse zu reflektieren und auf dieser Basis eventuell Anpassungen vorzunehmen.

 

changement! Heft 01/2022

 

Autor

Jan C. Weilbacher
ist Chefredakteur des Magazins changement.
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Eine angemessene Analyse vor einem Change-Projekt ist wichtig. Sie liefert Klarheit über die Situation, das Umfeld und die relevanten Stakeholder, insbesondere in komplexen Organisationen mit unterschiedlichen Interessen. Im Beitrag „Analyse im Change“ wird dies thematisiert.