Im vergangenen Herbst hat Vodafone eine digitale Plattform eingeführt, die als Eckpfeiler der Transformation des Unternehmens gilt. Grow ist das neue globale Recruiting-, Skill- und Lern-Ökosystem, das unter anderem das lebenslange Lernen und die Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden unterstützen soll. Personalchefin Felicitas von Kyaw erläutert im Gespräch die Bedeutung des Lernens für den Konzern, worauf man bei der Einführung von Grow besonders Wert gelegt hat und wie die Nutzung gefördert wird.

Grow ist seit November 2022 das neue globale Recruiting-, Skill- und Lern-Ökosystem von Vodafone. Es gilt als Eckpfeiler in der Transformation der Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Warum ist diese Transformation notwendig?

Die Welt hat sich noch nie schneller verändert als jetzt; sie verändert sich exponentiell. Wandel ist die einzige Konstante und betrifft mehr denn je auch unsere Arbeitsweisen. Neue Technologien treiben diesen Wandel an, in technischen und nicht-technischen Berufen. Roboter werden Kollegen, virtuelle Realität und künstliche Intelligenz unsere täglichen Begleiter. Diese und weitere Technologien beschleunigen die Transformation im Job, es werden sich ganze Berufsbilder sukzessive verändern und so rücken die Fähigkeiten von Mitarbeitenden in den Fokus. Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende müssen sich ständig neu erfinden, um zukunftsfit zu bleiben. Abschlüsse und Berufserfahrung sind keine für sich stehenden Kriterien mehr, um eine Rolle auszufüllen.

Und auch Vodafone befindet sich im Wandel: von einem Telekommunikationsunternehmen in ein Technologieunternehmen. Als Unternehmen und als Menschen werden wir die Veränderungen meistern, wenn wir uns kontinuierlich weiterentwickeln und lernen.

Was sind die Kernelemente von Grow?

„Grow with Vodafone“ ist ein globales Lern-, Skill- und Recruiting-System, wie du richtig gesagt hast. Es wächst stetig mit unserer Nutzung mit und passt sich an – unter anderem auf Basis des Nutzerverhaltens. Die Erstellung eines Skill-Profils ermöglicht es dem „intelligenten“ System, personalisierte Lern- und Entwicklungsempfehlungen zu geben.

„Grow with Vodafone“ besteht im Wesentlichen aus vier Säulen: „Grow your Skills“ und „Grow your Careers“, „Grow your Team“ und „Grow your Learning“.

Kannst du einmal kurz erläutern, was sich hinter den vier Säulen verbirgt?

Gerne. Mit „Grow your Skills“ können die Mitarbeitenden ihre Skills-Entwicklung selbst in die Hand nehmen, indem sie ihr eigenes Skills-Profil erstellen. Sie können im Profil eigene Skills angeben und den Fähigkeitsgrad selbst einschätzen.

Vodafone Grow (Erläuterung)

Mithilfe des Karriere-Planers in „Grow your Careers“ können Mitarbeitende erkennen, welche Skills sie gezielt weiterentwickeln, um ihren gewünschten Karriereweg zu verfolgen und ihre persönlichen Ziele zu erreichen. Für Aufgaben bzw. Rollen gibt es Skillsets, anhand derer sie sich hinsichtlich ihrer Lernreise orientieren können.

Passende Lernempfehlungen bekommen sie nahtlos durch die Verknüpfung zu „Grow your Learning“ angezeigt. Dieses innerhalb von Grow integrierte KI-unterstützte Stellenportal ermöglicht ein intuitives, personalisiertes Erlebnis, das Rollen- und Lernempfehlungen auf der Grundlage der eigenen Skills, bisheriger Erfahrungen und Interessen gibt. Und das sowohl hinsichtlich der aktuellen Aufgabe als auch in Bezug auf zukünftige Rollen für die sich Mitarbeitende im Rahmen der persönlichen Weiterentwicklung interessieren.

Auch das Bewerbermanagement in „Grow my Team“ wird durch KI unterstützt und bietet unter anderem neue Active-Sourcing-Optionen für Recruiter:innen und Hiring Manager:innen. Ihre Zeit kann optimiert werden, indem die am besten geeigneten potenziellen Bewerbungen auf Basis der Skill-Profile hervorgehoben werden.

Eure Lernplattform soll die Lernerfahrung stärker personalisieren. Lernen soll einfacher und selbstbestimmter werden. Wie sieht das beispielhaft aus?

„Grow your Learning“ führt alle Lerninhalte aus unserer eigenen Bibliothek und von externen Anbietern an einem zentralen Ort für unsere Mitarbeitenden zusammen. Anhand von eigenen Aktivitäten, Likes, gespeicherten oder abgeschlossenen Trainings, Empfehlungen von Kolleg:innen, Peer Groups, angegebenen Interessen und Empfehlungen, die zum persönlichen Skill-Profil passen, bekommt jeder Mitarbeitende eine personalisierte Oberfläche gezeigt. Mitarbeitende können Einfluss auf die Auswahl nehmen, indem sie Empfehlungen ablehnen, besonders passende Elemente abspeichern oder mit einem Like versehen und dadurch ihr Skill- oder Interessenprofil anpassen.

 

Vodafone Grow (Screenshot)

Zusätzlich zum On-demand-Angebot mit einem Mix aus internen und externen Inhalten, hat der Mitarbeitende auch Zugriff auf den Katalog mit kostenpflichtigen Lernformaten, die meist als analoge und/oder virtuelle Klassenraumtrainings angeboten und über ein strategisch gesteuertes Lernbudget freigegeben werden müssen. In Zukunft soll der Fokus zunehmend darauf liegen, dass Mitarbeitende untereinander ihre Lern-Playlists austauschen.

Denkst du, dass es bei den meisten Mitarbeitenden eine Verhaltensänderung in Bezug auf ein selbstbestimmtes Lernen braucht? Welche Routinen werden sich ändern müssen?

Mitarbeitende müssen neugierig bleiben, in allen Lebensbereichen.

Neue Skills kann man lernen. Die richtige Einstellung zum Lernen hingegen muss jeder mitbringen. Neugierde ist dabei eine Schlüsselkompetenz für persönliche Veränderung. Wir alle brauchen regelmäßige „Software-Updates“ für unsere Köpfe und ein Mindset-Shift von „alles wissen“ hin zu „alles lernen“. Denn Lernen bereichert. Wir wollen sowohl Freude am als auch einen spielerischen Umgang zum Lernen entwickeln. Dieses Umdenken ist für Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen wichtig.

Wir können Neugierde aktiv fördern, indem wir diverse Perspektiven stärken, zum Beispiel über cross-funktionale Entwicklung und Projektarbeit. Ebenso gelingt das, indem wir eine Haltung zulassen, die es erlaubt, offene Fragen zu stellen. Wir sollten uns gegenseitig zuhören und ermuntern, „out of the box“ zu denken.

Auch eine Kultur des ständigen Lernens fördert Neugierde. Ganz praktisch heißt das, Lernen zu einer „alltäglichen“ Sache zu machen, indem wir es in unseren Arbeitsalltag integrieren, durchaus auch „on the job“ oder anders formuliert: indem wir den Arbeitsort zum Lernort machen und Praxisnähe ermöglichen.

Gerade wenn Mitarbeitende ihre eigene Kompetenzentwicklung in die Hand nehmen sollen, braucht das doch eine Menge Selbstreflexion. Wie wird das gefördert?

Wir müssen unsere Mitarbeitenden zu „Selbstentwicklern“ werden lassen und dafür die persönliche Motivation nutzen. Gelerntes verliert durch Technologie als Treiber schneller an Gültigkeit als früher. Wir erleben, dass wir Wissen nicht mehr auf Vorrat halten können, weil sich Dinge schnell verändern. Ganze Berufsbilder fallen weg und so stehen unsere eigenen Fähigkeiten immer mehr im Vordergrund. „Wissen ist Gold“, sagte man früher. „Fähigkeiten sind das neue Gold“, sagt man heute. Und somit wird klar, dass man nie „ausgelernt“ hat, sondern Lernen ein dauerhafter, ja lebenslanger Prozess ist, der über die formale Bildungszeit hinausgeht.

Und dabei ist es ebenso wichtig, dass wir persönlich Verantwortung für unsere Lernreise und weitere Entwicklung übernehmen sowie regelmäßig über den Tellerrand schauen. Hierfür müssen wir aber zunächst unsere eigene Perspektive dazu verändern: Lernen nicht als Belastung zu erleben, sondern als Möglichkeit zu sehen. Die persönliche Lernreise fängt bei der eigenen Motivation an und bei den eigenen Interessen.

Die Selbstbestimmung, auch beim Lernen, ist wesentlich. Dabei mag es helfen, sich an die eigene Kindheit zu erinnern, in der wir zumeist mit offenen Augen durch die Welt gegangen sind und die berühmte „Warum-Frage“ gestellt haben. Diese Neugierde in uns als Erwachsene zu wecken, das ist eine wichtige Triebfeder. Damit das gelingt, wollen wir dem Lernen das „Müssen“ nehmen und es mit Alltagsnähe und einer gewissen Leichtigkeit angehen. Mit dem klaren Ziel, den Prozess und das Ergebnis des Lernens als Bereicherung zu betrachten.

Inwieweit wurde denn bei der Entwicklung der Lernplattform sichergestellt, dass sie intuitiv gut bedienbar ist und sich wirklich an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert?

Eine Besonderheit an dieser Lernplattform ist, dass sie allen Lernenden eine individuelle Startseite bietet. Je nachdem welche Skills vorhanden sind und welche Interessen hinterlegt wurden, welche Trends es gerade gibt und welche Empfehlungen von Kollegen gesendet wurden: Es entsteht eine ganz persönliche Seite.

Außerdem sind wir mit einem MVP, einem Minimum Viable Product, gestartet. Das heißt, die Lernplattform hatte bereits zum Launch die notwendigsten Funktionen. Alles weitere wird mit zunehmender Nutzung entwickelt. Kundenfeedback wird über alle Vodafone-Ländergesellschaften hinweg gesammelt. Auf dieser Basis werden Optimierungsentscheidungen getroffen oder Funktionen weiterentwickelt. So erhält die Plattform regelmäßig technische Updates. Ein konkretes Beispiel ist, dass Lernende jetzt auch externe Inhalte in ihrer internen Lernhistorie mit wenigen Klicks dokumentieren können. Und sie behalten eine bessere Übersicht und können ihre Lernaktivitäten an einem zentralen Ort zusammenbringen.

Worauf zielt die Change-Begleitung? Ist die Akzeptanz schon erreicht?

Viele Mitarbeitende konnten wir überzeugen, die Plattform zu nutzen und Teil der Community zu werden. Ihr Feedback haben wir direkt in den ersten Wochen zur Verbesserung der Lernerfahrung verwendet. Woran wir als Organisation weiterarbeiten, ist, eine Kultur des ständigen Lernens zu fördern. Ganz praktisch Lernen zu einer „alltäglichen“ Sache machen. Das bedeutet auch, dass wir individualisierte Lernmöglichkeiten fördern wollen, damit die persönliche Zielsetzung und Motivation zum Tragen kommen können.

Fahrt ihr eine Kommunikationskampagne rund um Grow? Wie sieht die aus?

Unsere Kommunikationskampagne mit klaren Zielen stützt die Einführung von „Grow with Vodafone“. In der Pre-Launch-Phase im Herbst 2022 wurde die HR-Community von Vodafone-Deutschland exklusiv als „Friendly User“ bereits zur Plattform zugelassen. So konnten erste Verbesserungen kurzfristig erzielt werden und HR als Change-Begleiter sich vorab vertraut machen. Die Launch-Phase diente zur gezielten Aktivierung von Mitarbeitenden und Führungskräften, um sich erstmalig damit auseinanderzusetzen. Die aktuelle Vertiefungsphase hingegen fördert eine regelmäßige Nutzung. Und auch durch die Verbesserungen und neuen Content wollen wir die Nutzung intensivieren.

Welche Rolle spielen die Führungskräfte, wenn es um die Nutzung der Lernplattform geht? Sollen sie als Vorbilder vorangehen?

Entwicklung findet andauernd statt und nicht nur, wenn man in eine neue Rolle wechselt. Wie ich bereits erwähnte, wollen wir „Lernen“ in den Alltag integrieren und den richtigen Rahmen dafür schaffen. Dafür brauchen wir Führungskräfte, die mit gutem Beispiel vorangehen und die dabei unterstützen, Räume dafür zu gestalten, aber auch Individualität und persönliche Motivation der Mitarbeitenden berücksichtigen.

Werden ansonsten Multiplikatoren oder Key User eingesetzt, die die Bekanntheit und Nutzung der Plattform fördern?

Unsere Herangehensweise ist sowohl top-down als auch bottom-up.

Wir nutzen Lern-Playlists unserer Vorstände, um Einblicke in deren Fokusthemen in Bezug auf den Anker „Lernen“ zu geben. Mitarbeitende teilen ihre Erfahrungen in Team-Meetings oder in unseren Online-Foren. Und sie geben sich gegenseitig Tipps zur Nutzung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

 

Autor

Felicitas von Kyaw
ist Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin bei Vodafone Deutschland und verantwortet den Bereich Personal. Sie hat umfangreiche Management-Erfahrung im Bereich Human Resources, Change und Transformation Management sowie im Umfeld Marketing und Sales. Die studierte Diplom-Volkswirtin ist zudem systemische Beraterin, Coach und seit 2017 Präsidiumsmitglied im Bundesverband der Personalmanager (BPM).
Der Kommunikationskonzern Vodafone liefert Internet, Mobilfunk, Festnetz und Fernsehen aus einer Hand. Mit über 30 Millionen Mobilfunk-, fast 11 Millionen Breitband-, nahezu 13 Millionen TV-Kunden und zahlreichen digitalen Lösungen erwirtschaftet Vodafone Deutschland einen jährlichen Gesamtumsatz von etwa 13 Milliarden Euro.
»Felicitas bei LinkedIn

Prof. Dr. Christian Busch weiß, was es braucht, um Serendipität, also unerwartetes Glück, zu kultivieren. Wie es funktioniert, beschreibt er in seinem neuen Buch „Erfolgsfaktor Zufall – Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“. Im Interview spricht er darüber, wie ein Serendipität-Mindset auch Change-Projekte vorantreiben kann.

Herr Busch, was genau ist Serendipität und wozu brauche ich sie?

Serendipität lässt sich am besten definieren als unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen ergibt, in denen unsere Entscheidungen und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führen.

Das klingt noch recht abstrakt. Hätten Sie ein Beispiel für Serendipität?

Eines meiner Lieblingsbeispiele hierfür ist die Entstehungsgeschichte der Kartoffelwaschmaschine des weltweit führenden Herstellers von Haushaltsgeräten, Haier. Denn als Haier-Vertreter erfuhren, dass Landwirte Haiers Waschmaschinen zur Kartoffelreinigung nutzten, passten sie die Maschinen schnell an. Damit die Teile mit dem zusätzlichen Schmutz fertigwerden konnten, den die Kartoffeln produzierten und der die normalen Maschinen überforderte. Hier wurde aktiv ein unerwartetes Kundenbedürfnis, das per Zufall bekannt wurde, aufgegriffen und mit der Entwicklung der „Kartoffelwaschmaschine“ aktiv Glück geschaffen – also Serendipität genutzt.

Gibt es ein Serendipität-Mindset bei Menschen?

Als ich anfing, erfolgreiche Geschäftsleute zu studieren, ist mir schnell aufgefallen, dass sehr viele von ihnen erklärten, sie hätten einfach Glück gehabt. Das Glück, von dem hier gesprochen wird, ist allerdings nicht blindes Glück, wie es auftritt, wenn man beispielsweise in eine reiche oder arme Familie geboren wurde. Diese Geschäftsleute verstanden es, wie bei der Kartoffelmaschine, aus Zufällen aktiv Glück zu schaffen und damit den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Also haben sich diese erfolgreichen Geschäftsleute aktiv zu Glückspilzen gemacht?

Das ist eine gute Frage. In einem meiner Lieblingsexperimente wurden Unterschiede zwischen zwei Menschentypen untersucht. Die einen sahen sich eher als Glückspilze und wiesen so etwas wie ein Serendipität-Mindset auf. Die anderen sahen sich eher als Pechvögel, ihnen fehlte eher dieses Serendipität-Mindset. Die Leute sollten eine Straße runterlaufen, in ein Café reingehen, sich einen Kaffee holen und danach mit der Versuchsleitung sprechen. Was die Forschenden den Leuten nicht gesagt haben: Auf dem Weg und im Café waren versteckte Kameras, vor dem Café lag ein Geldschein und im Café war direkt neben der Theke ein Tisch, an dem ein unglaublich erfolgreicher Geschäftsmann saß.

Was ist passiert?

Eine Person mit Serendipität-Mindset geht die Straße runter, sieht den Geldschein, hebt ihn auf, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich an den Tisch direkt an der Theke, spricht mit dem Geschäftsmann und erhält eine Visitenkarte. Die unglückliche
Person ohne Serendipität-Mindset geht auch die Straße runter, sieht den Geldschein nicht, geht ins Café, bestellt sich einen Kaffee, setzt sich auch an den Tisch direkt an der Theke und ignoriert den Geschäftsmann. Am Ende des Tages werden beide gefragt, wie der Tag so war. Glückspilze sagen, es war ein perfekter Tag: Ich habe Geld auf der Straße und einen neuen Freund gefunden, durch
den ich potenziell eine neue Geschäftsmöglichkeit habe. Pechvögel sagen nur, es war ein ganz normaler Tag: Heute ist nichts passiert. Und genau das ist das Spannende: Je nachdem, ob eine Person ein Serendipität- Mindset hat oder nicht, können in der gleichen Situation völlig andere Ergebnisse entstehen.

Was fördert beziehungsweise behindert Serendipität in der Arbeitswelt und ganz besonders in Projekten?

Hier sehe ich zwei Ebenen, die individuelle und organisationale, die fördernd oder hinderlich sein können. Auf individueller Ebene können vor allem Ängste, beispielsweise vor Zurückweisung, und starre Vorstellungen darüber, wie Dinge zu funktionieren haben, Serendipität behindern. Förderlich sind wiederum Neugierde, Aufmerksamkeit und Improvisationsfähigkeit.

Auf organisationaler Ebene geht es darum, eine Kultur zu schaffen, in der Serendipität erlaubt wird. Dabei sind psychologische Sicherheit und die Fähigkeit einer Organisation, neue Informationen in existierende Strukturen und Prozesse zu integrieren, entscheidende Erfolgsfaktoren. Haben Beschäftigte Angst davor, über Fehler oder unerwartete Ereignisse zu sprechen, weil kein Raum für Lernen und Anpassen der Arbeitsprozesse gegeben ist, wird es sehr unwahrscheinlich, dass Zufälle gewinnbringend für Innovationen genutzt werden können.

Hätten Sie einen Tipp, wie man individuell Serendipität fördern kann?

Eine einfache Möglichkeit, individuell für mehr Zufallsmomente zu sorgen, sind Serendipitätshaken. Fragt man beispielsweise Oli Barrett, einen in London ansässigen Unternehmer: „Was machen Sie beruflich?“, sagt er in etwa: „Ich liebe es, Menschen zu verbinden, arbeite im Bildungssektor und beschäftige mich seit Kurzem mit Philosophie. Und Klavier spiele ich besonders gern.“ Diese Antwort enthält vier Haken: eine Leidenschaft (Menschen zu verbinden), eine Berufung (Bildung), ein Interesse (Philosophie) und ein Hobby (Klavierspielen). Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Gegenüber eine Ähnlichkeit entdeckt, die die beiden verbindet. Das Gute an der Methode ist, dass sie in unterschiedlichsten Kontexten, sei es auf einer privaten Party oder in einem geschäftlichen Meeting, sofern es die Arbeitskultur in der Organisation hergibt, genutzt werden kann.

Welche Rolle spielt der Zufall bislang in Change-Projekten in Organisationen?

Größtenteils wird der Zufall in Organisationen als etwas Negatives gesehen.

Er wird schnell als etwas Lästiges, das einem in die Quere kommt und extra Arbeit macht oder direkt als Bedrohung bewertet. Ich habe in Organisationen immer wieder beobachtet,
wie bei Change-Projekten recht straffe Pläne geschmiedet werden, wann welche Prozesse einzuleiten und abzuschließen wären. Solche Pläne haben wiederum häufig zur Folge, dass nach dem Prinzip „alles muss nach Plan laufen“ gearbeitet wird statt sich auf den tieferen Sinn, wohin das Change-Projekt langfristig führen soll, zu konzentrieren und entsprechend Pläne auch anzupassen.

Was tun Sie bei Ihren unterschiedlichen Projekten, sei es als Wissenschaftler oder CEO, um in Ihren Teams den Erfolgsfaktor Zufall nutzbar zu machen?

In meinen unternehmerischen Führungspositionen habe ich meine Aufgabe vor allem darin gesehen, das individuelle Potential aller Beschäftigten zu verstehen und mir die Frage zu stellen, was es braucht, um dieses ideal nutzen zu können. Ich bin der Überzeugung:

Wer zu viel anweist und auf alles Antworten parat hat, gibt dem Zufall wenig Chance.

Fragen zu stellen, ist entsprechend damals wie auch heute als Wissenschaftler meine Haupt- und Lieblingsbeschäftigung. So entsteht der nötige Austausch, um dem Erfolgsfaktor Zufall eine Chance zu geben.

Was sollte aus Ihrer Zufall-Sicht bei der Projektplanung und Projektleitung unbedingt vermieden werden?

Zum einen sollte vermieden werden, Projektpläne als unbedingt genau abzuarbeitende Anforderungskataloge vorzugeben. Denn damit erklärt man unerwartete Ereignisse oder den Zufall von vornherein zur Bedrohung. Zum anderen sollten Change-Projektleitende klar kommunizieren, den Beteiligten in einigen Bereichen schlichtweg keine Planungssicherheit liefern zu können. Es ist entscheidend, diese potentielle Instabilität durch Change gemeinsam auszuhalten und Wege der Unterstützung zu finden. Denn Menschen sind nicht per se gegen Veränderung. Menschen sind nur oft eher darauf bedacht, nicht zu verlieren als zu gewinnen. Viele Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, formulieren zu diesem Zweck die Notwendigkeit einer Veränderung so um, dass die größere Gefahr darin besteht, sich nicht zu verändern. Wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Veränderung dringend ist und sich lohnt, dann geht es darum, gemeinsam den maximalen Gewinn zu erzielen. Dazu gehört auch, den Erfolgsfaktor Zufall zu nutzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Christina Guthier.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autor

Prof. Dr. Christian Busch
ist Direktor des CGA Global Economy Programs an der New York University und lehrt auch an der London School of Economics und Political Science. Er ist regelmäßiger Redner auf Konferenzen wie dem Weltwirtschaftsforum (WEF) und TEDx sowie Mitglied des WEF-Expertenforums, Ehrenmitglied der Royal Society of Arts und steht auf der Thinkers50-Radar Liste. Über seine Arbeit berichteten bereits unter anderem Harvard Business Review, Forbes und BBC. Sein Buch „Erfolgsfaktor Zufall: Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können“ erschien am 28. Februar 2023 bei Murmann.
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Veränderungsprojekte misslingen häufig. Studien liefern dafür gute Gründe. Doch worauf führen Change-Verantwortliche selbst ihr Scheitern zurück? Dieser Beitrag versammelt anonymisierte Stimmen, die ungeschminkt von ihren Pleiten berichten: Fuck-ups.

Wer immer dafür wirbt, dass Change-Projekte nicht ohne professionelle Unterstützung gelingen, verweist auf einschlägige Studien. Die belegen in schöner Regelmäßigkeit, dass bis zu 70 Prozent aller Veränderungsprojekte nicht die Ziele erreichen, die sie sich gesteckt haben.

Auch die Gründe ähneln sich. Am häufigsten zitiert werden die acht Ursachen, die John Kotter in seinem Klassiker „Leading Change“ für das Scheitern von Change-Projekten verantwortlich gemacht hat. Zur Erinnerung: das Versäumnis, die Dringlichkeit der Veränderungsmaßnahme darzulegen, eine starke Führungskoalition zu bilden, eine Vision der Veränderung zu vermitteln, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, kurzfristige Erfolge systematisch zu planen sowie die zu frühe Verkündung des Abschlusserfolges und die ausbleibende Verankerung der Veränderungen in der Unternehmenskultur.

Die Unternehmensberatung BearingPoint kam bei der Befragung von 300 Schweizer Change-Verantwortlichen im Jahr 2021 auf sechs Handlungsfelder, in denen Fehler zum Scheitern von Veränderungsprojekten führen:

1 Kultur/Mentalität: Emotionaler Widerstand aufgrund mangelnden Verständnisses

2 Leadership: Mangelnde Führung und Unterstützung

3 Kommunikation: Fehlende Klarheit

4 Menschen/Fähigkeiten: Begrenzte Ressourcen und mangelndes Know-how

5 Struktur/Prozesse: Fehlende Ausrichtung auf Wandel

6 Umsetzung: Mangel an Vision, Strategie, Zielen und klar definierter Roadmap

Doch wovon berichten Projektleitende und Change-Verantwortliche im persönlichen Gespräch, wenn es darum geht, was die größten Fehler und Niederlagen ihrer Laufbahn waren? Und wenn, wie in diesem Fall geschehen, man ihnen bei Veröffentlichung absolute Anonymität zusichert? Folgende Beispiele und Erfahrungen kamen in den anonymen Gesprächen zutage.

Homeoffice-Einführung setzt nur auf Regeln

Person A berichtet von einer überstürzten Einführung von Remote Work im Zuge der Corona-Krise. „Da haben wir im Tagesrhythmus Verhaltensregeln, Durchführungsanweisungen und Techniktipps rausgehauen. Doch in den Köpfen lebte die Präsenzkultur weiter.“ Das habe natürlich bereits die Arbeit aus dem Homeoffice heraus überschattet – und zwar sowohl von Seiten der Führungskräfte, die um Kontrolle rangen, als auch von Seiten der Mitarbeitenden, die Leistungsnachweise höher gewichteten als Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Kein Wunder, dass nach Abklingen der Epidemie sofort wieder eine Präsenzpflicht eingeführt wurde.

Das aber hätte verhindert werden können. „Wir hätten das technische Einführungsprojekt einfach mit einem echten Veränderungsprozess begleiten müssen“, berichtet die Person. „Da hätte es genügt, die Remote-Erfahrungen zu reflektieren und mit Führungskräften wie Mitarbeitenden zu besprechen. Im Anschluss hätten wir entsprechende Kommunikationsskills und kooperative Führung schulen können – und die Welt sähe heute bei uns anders aus.“

Innovationsinitiative demotiviert im Bestandsgeschäft

Person B berichtet von einer großen Change-Initiative, die ein mutmaßlich träge gewordenes Familienunternehmen hin zu einer Innovationshaltung führen sollte. „Da haben wir die Leute mit Silicon-Valley-Narrativen überschüttet, Innovationsinseln gebaut, dort die Leute experimentieren und Geld verbrennen lassen – und noch dazu den Kolleginnen und Kollegen in einem immer noch sehr soliden Bestandsgeschäft suggeriert, sie hätten die Zeichen der Zeit nicht verstanden, sie seien zu träge, zu rückwärtsgewandt und ohnehin mehr oder weniger ein Auslaufmodell.“

Das führte natürlich im Bestandsgeschäft zu Frustration, riss Gräben auf und erzeugte Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen. Auch erwies sich dieses Vorgehen als in keinster Weise hilfreich: Den Innovatoren fehlte die Rückkopplung in die Bestandsbereiche, die Innovationslust der Bestandsbereiche wurde ausgemerzt und führte zu Kündigungen oder innerer Emigration. „Dabei wäre es so einfach gewesen“, erzählt die Person. „Wir hätten nur den Gedanken der Ambidextrie leben müssen, nämlich dass es bei uns beides braucht: Exploration und Exploitation, Innovation und Effizienz. Und wir hätten beides wertschätzen und eine Durchlässigkeit zwischen den Bereichen ermöglichen müssen.“ In diesem Fall setzte sich Einsicht durch – und im genannten Sinne wurde, allerdings für viele zu spät, nachgesteuert.

Kommunikation, die keiner braucht

Person C berichtet: „Wir haben bei der Einführung eines wichtigen Teils einer Personalstrategie eine unglaubliche interne Kommunikation dazu aufgesetzt. Und uns dann gewundert, dass es scheinbar niemanden interessiert hat. Da waren wir einfach zu produktverliebt und haben viel Energie und Begeisterung in etwas gesteckt, was aus Sicht unserer Stakeholder überhaupt nicht von Relevanz war.

Person D, die immer wieder als externe Kraft Change-Projekte begleitet, erzählte uns: „Ich habe ohne vorherige Stakeholderanalyse und Einschätzung der Gesamtsituation am Kick-off eines großen Projektes teilgenommen. Ein sachlicher Verweis von mir zu bestehenden Risiken hat dann unerwartet heftige Kritik losgetreten.“ Die geplante Veränderung war offenbar schon im Vorfeld sehr kritisch diskutiert worden. „Das hätte ich vorab recherchieren müssen. Es hat mir gezeigt, wie emotional auf Fakten reagiert wird und wie das objektive Urteilsvermögen in den Hintergrund rückt. Es wäre gut gewesen, die Situation im Vorfeld besser zu analysieren und die Risiken zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Rahmen anzusprechen.

„Den Fuck-up-Kult sehe ich kritisch”

Wie umgehen mit Fehlern und Scheitern in Change-Prozessen? Professorin Ilka Heinze hat dazu eine klare Meinung.

Zu scheitern schmerzt und verunsichert, auch in Veränderungsprojekten. Wie sollten Change-Verantwortliche damit umgehen?

Zuerst möchte ich betonen: Ich halte die Verherrlichung des Scheiterns für naiv und gefährlich. Fuckup- Nights und andere Moden sehe ich eher kritisch. Denn Fehler zu machen und zu scheitern, hat Auswirkungen auf die Betroffenen, die mit lockeren Sprüchen und unreflektierten Gruppenevents nicht zu bewältigen sind.

Was macht denn Scheitern mit Menschen?

Ich habe dazu unter Gründern geforscht. Da bin ich auf vier grundlegende Arten gestoßen, mit dem Scheitern umzugehen. Dabei geht es immer darum, dem Scheitern einen Sinn abzugewinnen und im Idealfall aus den Fehlern zu lernen.

Wie würden Sie diese vier Arten beschreiben?

Da gibt es Personen, die das gründlich analysieren, emotional wenig an sich heranlassen und Sachgründe finden, warum das Vorhaben gescheitert ist. Auf der Basis können sie ihren Frieden damit machen, lernen aber für sich selbst eher wenig. Dann gibt es die, die unter dem Scheitern und den Folgen leiden. Die stecken im Loch und grübeln. Die sind zu Veränderungen und Schlussfolgerungen gar nicht in der Lage – zumindest noch nicht. Die dritte Art, mit Scheitern umzugehen, ist eher sportlich: Hinfallen gehört dazu, aufstehen und weitermachen. Diese Personen reden befreit über ihr Scheitern, entwickeln sich dabei aber als Person kaum weiter. Die vierte und beste Art damit umzugehen, legen jene an den Tag, die das Scheitern intensiv reflektieren, ihr Verhalten anpassen und ändern wollen. Sie gehen Projekte nicht nur deshalb an, um Erfolge zu erzielen, sondern auch, um zu lernen.

Einen Wandel nicht herbeizuführen, den ich herbeiführen sollte, wird aber Change-Verantwortlichen kaum verziehen. Was tun?

Da sehe ich zwei Ansatzpunkte. Erstens: Die Balance zwischen Minimierung der Fehlerquellen und dem Lernen aus dann doch gemachten Fehlern zu finden. Agile Herangehensweisen, die Projekte iterativ gestalten und damit auch Fehler und Möglichkeiten zu scheitern überschaubar halten, sind ein guter Weg. Dann braucht es aber auch eine andere Einstellung zu Veränderungsprojekten.

Welche wäre das?

Wir sollten ehrlicher sein. Veränderung ist ein komplexes Anliegen, hier sollten die Lernchancen für alle Beteiligten betont werden. Gerade bei gemeinschaftlichen Veränderungsprojekten können Sie ja nicht nur mit Typ 3 oder 4 die Veränderung betreiben. Da müssen alle ins Boot, und alle sollten das Nötige dabei lernen. Und alle müssen übrigens genauso konsequent verlernen, was an Verhaltens- und Herangehensweisen dem Neuen im Wege steht. Change-Manager sollten sich daher zunehmend auch als Lern- und Verlern-Coaches verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Randolf Jessl.

 

changement! Heft 03/2023

 

Autoren

Randolf Jessl
ist Geschäftsführer der Beratungsagentur Auctority. Er berät, trainiert und coacht an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen.
>>Randolf auf LinkedIn

Prof. Dr. Ilka Heinze
ist Professorin für Wirtschaftspsychologie und Management an der Hochschule Fresenius. Sie hat zu Lernstrategien von gescheiterten Entrepreneuren promoviert.
>> Ilka auf LinkedIn

„Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft“

Dass es in Deutschland eine Energiewende braucht, scheint außer Frage zu stehen. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen haben den Wandel hin zu einer nachhaltigeren Energieversorgung noch mal deutlich gemacht. Und dennoch gehen die Veränderungen nur langsam voran – oder sie werden gar ausgebremst. Die Energieökonomin Claudia Kemfert fordert im Gespräch von allen Beteiligten ein entschlossenes Handeln für die Wende. Vor allem müsse man so schnell wie möglich aufhören, fossile Energien zu verbrennen.

Frau Kemfert, seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit nachhaltiger Energieversorgung und der Energiewende und Sie haben immer wieder auf die Probleme aufmerksam gemacht. Es ist manches passiert. Es gab und gibt aber auch immer wieder Rückschläge hinsichtlich der Energiewende. Zuletzt hieß es, dass Deutschland die für 2030 angesetzten Klimaziele deutlich verfehlen wird. Haben Sie noch Zuversicht?

Wenn es gelingt, zahlreiche Fehlentwicklungen zu korrigieren, könnten die Klimaziele durchaus erreichbar sein. Im Energiesektor muss so schnell wie möglich der Kohleausstieg umgesetzt werden. Aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der damit einhergehenden Gaskrise werden Kohlekraftwerke derzeit wieder verstärkt genutzt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss schneller gehen. Der Verkehrssektor hinkt weit hinterher, Elektromobilität auf Schiene und Straße muss deshalb ebenfalls schneller forciert werden. Verkehrswende bedeutet vor allem eine Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung. Der Schienenverkehr und ÖPNV müssen gestärkt, Ladeinfrastrukturen ausgeweitet sowie Fahrrad- und Fußwege ausgebaut und sicherer gemacht werden.

Auch im Gebäudesektor gibt es viel nachzuholen. Die energetische Sanierung der Bestandsgebäude ist enorm wichtig genauso wie der Einsatz von Wärmepumpen und die Erreichung von emissionsfreien Nah- und Fernwärmeoptionen.

Und schließlich der Industriesektor: Das Energiesparen ist hier genauso elementar wie der Einsatz von hochindustriellen Wärmepumpen und emissionsfreien Technologien. Der kostbare Ökostrom muss möglichst effizient überall genutzt werden.

Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch beträgt in Deutschland etwa 17 Prozent. Was, würden Sie sagen, ist der Hauptgrund, warum der Anteil immer noch relativ gering ist?

Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde insbesondere in den vergangenen zehn Jahren massiv gebremst. Es wurden absichtlich Barrieren und Hemmnisse eingeführt. Die Umstellung auf Ausschreibungen hat den Zubau beispielsweise stark verlangsamt, auch die Einführung von Abstandsregeln bei der Windenergie hat dazu geführt, dass der Ausbau nahezu komplett zum Erliegen kam. Es gilt, die Rahmenbedingungen rasch zu ändern, damit der Anteil von erneuerbaren Energien überall wächst. Ökostrom sollte möglichst sofort effizient zum Einsatz kommen, wie beispielsweise bei Wärmepumpen oder Elektromobilität.

Die Folgen des Klimawandels sind gut belegt. Die Notwendigkeit der Veränderungen ist allgemein akzeptiert. Warum fällt es uns dennoch so schwer, einen wirklichen Umbruch zu gestalten?

Klimaschutz bedeutet, dass wir so schnell wie möglich aufhören müssen, fossile Energien zu verbrennen. Die Geschäftsmodelle der fossilen Industrie würden dann wegfallen. Das wird durch die Interessenvertreter nun seit Jahrzehnten erfolgreich verhindert.

Die Beharrungskräfte sind enorm.

Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft. Die Politik muss entschlossener die Interessen der zukünftigen Generationen berücksichtigen. Leider passiert dies nicht in ausreichendem Maße.

Aufgrund des Ukraine-Krieges und des Gaslieferstopps durch Russland scheinen die Bedingungen für die erneuerbaren Energien in Deutschland eigentlich so gut wie nie zu sein. Braucht es vielleicht solche Krisen, um einen echten Wandel zu gestalten?

Scheinbar braucht es schreckliche Krisen, um wach zu werden. Aber:

Ausreichend gehandelt wird immer noch nicht. Wir alle zahlen den Preis der verschleppten Energiewende.

Ganz besonders die Ärmeren. Dabei wäre präventives Handeln so viel besser als reaktives. Die verschleppte Energiewende, die Klimakatastrophe, das Artensterben, die Pandemie, die Demokratie- und Wirtschaftskrise: Wie viele Krisen brauchen wir denn noch? Sicherlich ist die Gaskrise ein großer Weckruf, aber sie hat auch zwei Seiten. Hohe Preise für fossile Energien lassen Energiesparen und erneuerbare Energien attraktiver werden. Aber auch das Bohren nach Öl und Gas und Kohleabbau werden ebenso finanziell attraktiv.

Das heißt, aufgrund des Krieges gewinnen „schmutzige Energien“ wieder an Bedeutung?

So ist es. Überall auf der Welt wird wieder vermehrt nach Öl und Gas gebohrt und Kohle abgebaut. Selbst Deutschland baut überflüssige überdimensionierte Flüssiggas-Terminals, will in der Nordsee im Naturschutzgebiet nach Gas bohren und vereinbart fossile Gas-Lieferungen mit fragwürdigen Partnern. Das geht in die völlig falsche Richtung. Wenn wir so weitermachen, kommen wir aus den vielen Krisen gar nicht mehr heraus.

Wer sind in Ihren Augen die entscheidenden Akteure, um der Energiewende einen großen Schub zu geben? Die Politik, die Wirtschaft oder die Verbraucher?

Alle. Verbraucher haben es in der Hand, durch aktive Kaufentscheidungen und Verhaltensänderungen die Unternehmen zum Handeln zu zwingen. Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen setzen.

Die Subventionen für fossile Energien noch immer viel zu hoch.

Umweltabgaben viel zu niedrig. Und Unternehmen müssen die Wirtschaft transformieren, auf erneuerbare Energien umstellen, Energie einsparen sowie grünen Wasserstoff herstellen und nutzen. Somit sind alle Teil der Lösung. Alle zusammen, nicht einer allein.

Können die Energieversorger selbst auch einen wesentlichen Beitrag für die Energiewende leisten? Inwieweit sind sie beispielsweise vorbereitet auf eine in Zukunft vermutlich stärkere dezentrale Energieerzeugung?

Selbstverständlich. Die Energieversorger stellen ja auch so langsam endlich um und erhöhen den Anteil erneuerbarer Energien. In Kombination mit digitalem Energie- und Lastmanagement und dem vermehrten Einsatz von Energiespeichern werden mehr und mehr neue Geschäftsmodelle geschaffen, auch dezentrale.

Die Energiewende ist dezentral, flexibel, digital und vernetzt.

Die Energieerzeugung von Bürgern ist somit auch wichtig, genauso wie die von kommunalen Unternehmen.

Was würden Sie sagen, sind die wichtigsten zwei oder drei strategischen Hebel, um die erneuerbaren Energien und die nachhaltige Energieversorgung entscheidend voranzubringen? Was braucht es zum Beispiel, damit der Ausbau von Windkraft und Solaranlagen schneller vorangeht?

Es werden noch immer zu wenig Flächen für Windenergie ausgewiesen. Die Genehmigungsverfahren sind zu kompliziert, fehleranfällig und damit angreifbar. Sie müssen entschlackt, vereinfacht und juristisch eindeutig umgesetzt werden, sodass alle Belange, vor allem des Natur- und Artenschutzes ausreichend berücksichtigt werden. Akzeptanzsteigernd sind vor allem Partizipationsmöglichkeiten, die über Bürgerenergien oder aber durch finanzielle Vorteile – wie sinkende Strompreise – erreicht werden können. Auch bei der Solarenergie gilt es, die Verfahren zu erleichtern. Das größte Hemmnis wird allerdings zunehmend der Fachkräftemangel. Hier gilt es dringend gegenzusteuern.

Laut Expertenrat für Klimafragen müsste der Industriesektor seine jährlichen Emissionseinsparungen etwa verzehnfachen, damit die deutschen Klimaziele bis 2030 noch erreicht werden könnten. Im Verkehrssektor müsste der Ausstoß pro Jahr sogar um das 14-Fache reduziert werden. Wie könnte das gelingen? Kann die Energiewende nur durch Verzicht gelingen – Verzicht auf Gewinne, Mobilität und Komfort?

Die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir sie nicht weiter ausbremsen und die Rahmenbedingungen so anpassen, dass sie überhaupt gelingen kann. Im Verkehrssektor geht es auch, wie ich bereits erwähnte, um Verkehrsvermeidung. Verkehrswende beutet, dass nicht mehr wie bisher 90 Prozent aller Fahr- bzw. „Stehzeuge“ herumstehen, sondern Mobilitätsdienstleistungen im Vordergrund sind. Wenn alle Menschen Zugang zu preislich erschwinglicher und attraktiver Mobilität haben, ist das ein Gewinn.

Im Industriesektor gibt es gigantische Chancen.

Angesichts der Dringlichkeit der Transformation der Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität darf Deutschland nicht im Aktivismus um kurzfristige Unternehmenshilfen stecken bleiben. Entscheidend ist vielmehr, dass jetzt schnell und effizient eine industriepolitische Strategie für den Umbau der Industrie umgesetzt wird. Wenn die Produktionsprozesse dekarbonisiert werden und die Industrie in Energieeffizienztechnologien und Energiesparprogramme investiert sowie in den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien, kann eine dauerhaft nachhaltige und resiliente Wirtschaft entstehen und bestehen. Mit der Energiewende, also
weg von fossilen Energien hin zu Energieeffizienz und erneuerbaren heimischen Energien sowie Lieferketten, kann die deutsche Industrie dauerhaft gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Was erwarten Sie von der Politik diesbezüglich vor allem?

Entschlossenes und schnelles Handeln. Wir sind in einer Zeitenwende. In puncto Energie wird dem derzeit nicht ausreichend Rechnung getragen.

Und wo gibt es für Sie Zeichen der Hoffnung?

Bei den Menschen. Ich erlebe viel Verständnis und Solidarität. Das gibt Hoffnung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 01/2022

 

Autorin

Prof. Dr. Claudia Kemfert
ist eine der profiliertesten Energieökonominnen Deutschlands. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Sie ist zudem Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Bis 2019 war sie Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Von 2004 bis 2009 hatte sie die Professur für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität inne. Claudia Kemfert hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht. „Schockwellen: Letzte Chance für sichere Energien und Frieden“ ist der Titel ihres aktuellen Buches.
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Michael von Roeder ist ein echter Change Maker, der bei Veränderungen „hart am Wind segelt“. Mit der digitalen Transformation des Stromnetzbetreibers 50Hertz hat er als Chief Digital und Information Officer derzeit eine herausfordernde Aufgabe. Und dennoch sagt er, man müsse alles infrage stellen. Im Interview spricht der Transformationsgestalter über das Spannungsfeld, in dem er sich bewegt, über lange Genehmigungsverfahren und darüber, was er die vergangenen Jahre in Sachen Change persönlich gelernt hat.

Herr von Roeder, wir alle leben in dynamischen Zeiten. Es gibt um uns herum viele Veränderungen in scheinbar immer kürzeren Zyklen. Wie gehen Sie persönlich damit um? Was machen die vielen Veränderungen mit Ihnen?

Ja, auch ich persönlich bin von einigen Veränderungen betroffen. Doch ich muss sagen: Mir gibt Change Energie. Ich habe in meinem Leben viele verschiedene Dinge gemacht. Das kann man auch an meinem Lebenslauf sehen. Ich war selbstständig, als Freelancer tätig, in einem Start-up, in Corporates, in einer Unternehmensberatung – überall, wo man so arbeiten kann.

Die vielen Veränderungen, von denen Sie sprechen, betreffen aber nicht nur mich persönlich, sondern auch meine Mitarbeitenden. Ihnen möchte ich die notwendige Sicherheit geben, eine „Safe Base“, um sich auf die Veränderungen einlassen zu können. Dass das wichtig ist, habe ich allerdings erst vor anderthalb Jahren verstanden.

Wie kam das?

Ich habe im Urlaub das Buch „Care to dare“ gelesen. Der Titel meint sinngemäß: Sicherheit herstellen, um dann die Menschen herauszufordern – im positiven Sinne. Ich hatte es bis dahin immer anders gemacht: meistens nur „dare“. „Care“ war mir nicht so wichtig. Das hat allerdings sehr oft nicht funktioniert.

Ich habe einen echten Erkenntnisprozess durchgemacht.

Nämlich, dass die Menschen erst einmal eine sichere Basis brauchen, von der aus sie die Veränderungen mitgehen können.

Und das beherzigen Sie nun auch bei 50Hertz?

Ja, absolut. Wir sind gerade dabei, die Organisation umzubauen. Im Rahmen dessen habe ich mit meinem Management-Team beispielsweise ein Zielbild entwickelt für die nächsten drei Jahre. Mir war wichtig, dass sie wissen, wo ich hinwill – volle Transparenz. Und ich habe ihnen auch gesagt: „Was auch immer passiert und egal, welche Jobtitel ihr haben werdet, ihr werdet mein Management-Team bleiben.“

Warum haben Sie das gesagt?

Eine Führungskraft denkt bei einem großen Change immer auch darüber nach, inwieweit die Veränderung sie selbst betrifft – egal wie professionell sie agiert. Mit dieser Zusicherung von mir konnte ich dem einen Riegel vorschieben. Das Team muss nicht mehr darüber nachdenken, was die Veränderung für sie persönlich bedeutet.

Seit wann sind Sie in Ihrem Job?

Seit mehr als drei Jahren. Vorher war ich bei einem kleinen Unternehmen, 50 bis 60 Leute, sehr Purpose-getrieben, nah am Unternehmenszweck. Bei 50Hertz sind es über 1.400 Mitarbeitende, in der gesamten Elia Group 2.600 fest angestellte Beschäftigte. Die Branche ist aus guten Gründen risikoavers und lief lange im „Geradeausbetrieb“. Durch die neue Bundesregierung und durch den Ukraine-Krieg ist nun ein Höllendruck im System. Es gibt einen Zwang zur Veränderung. Das ist auch allen bewusst. Nur, wie weitgehend diese Veränderung sein wird, das ist noch nicht allen klar. Es gibt oft immer noch die Einstellung „Lasst uns nur so viel wie nötig verändern“.

Ich sage aber: Wir müssen alles infrage stellen.

Wir brauchen eine Vorstellung davon, wo wir hinwollen in den nächsten zehn Jahren.

Dann können wir überlegen, wie wir dahinkommen. Das ist kein evolutionärer Ansatz, sondern man kommt vom Ziel und arbeitet sich dann von hinten nach vorne vor. Bei einem solchen Vorgehen muss man allerdings aufpassen, die Menschen nicht zu überfordern. Ich meine hier vor allem eine emotionale Überforderung.

In Ihrer Rolle müssen Sie also einen Balanceakt hinbekommen: Sicherheit geben und gleichzeitig die Menschen herausfordern und die Notwendigkeit der Veränderung klarmachen?

Absolut. Und am Ende muss man es auch vorleben. Meine Herausforderung ist es, die Verbindung herzustellen zwischen dem Heute und der Vision, die skizziert, wo es hingehen soll. Wir müssen nicht übermorgen alles anders machen. Aber wenn wir bis 2032 hundert Prozent erneuerbare Energien im 50Hertz-Netz haben und bis 2050 in Europa dekarbonisiert sein wollen, dann bedingt das einen gewissen Zeitablauf. Und wir sind derzeit hintendran.

Das Gute ist jedoch, dass die Veränderungen in exponentieller Geschwindigkeit passieren. Wenn wir zum Beispiel von drei Jahren Change sprechen, dann passiert in den ersten beiden Jahren gefühlt überhaupt nichts. Denn in erster Linie werden in dieser Zeit Grundlagen gelegt. Es wird am Mindset gearbeitet und Vertrauen aufgebaut. Erst dann fängt es an, sich zu beschleunigen.

„Think big, start small, scale fast.“

Das ist der Dreiklang, den wir hier anwenden.

Früher habe ich zu viel „think big“ gemacht und zu wenig „start small“, vor allem aber zu wenig erklärt. Seit ich das verändert habe, funktioniert es besser.

50Hertz betreibt das Stromübertragungsnetz im Norden und Osten Deutschlands und baut es für die Energiewende nun aus. Warum ist der Ausbau notwendig?

Der Ausbau ist nötig, weil wir in Deutschland zukünftig erneuerbare Energien vor allem im Norden erzeugen werden – viel mehr, als dort gebraucht werden. Und im Süden wird weniger erzeugt, als dort nötig wäre. Das bedeutet, wir müssen die Energie von Norden nach Süden bringen. Es gibt derzeit drei große 50Hertz-Projekte, die dafür sorgen sollen, dass riesige Strommengen über Gleichstromverbindungen in den Süden Deutschlands transportiert werden.

Des Weiteren müssen wir innerhalb des 50Hertz-Netzgebietes ausbauen, weil immer mehr Windkraft- und Solaranlagen ans Netz angeschlossen werden. Beispielsweise konnten wir vor Kurzem endlich das erste Teilstück der sogenannten Uckermark- Leitung in Betrieb nehmen, die nach Berlin führt. 17 Jahre dauerte das Planungs- und Genehmigungsverfahren. Sie sehen: Die Planungs- und Genehmigungsverfahren sind noch viel zu langsam. Dass das so nicht bleiben kann, ist von der Politik zum Glück erkannt. Die neue Regierung hat mit zwei Gesetzespaketen mittlerweile mehr Gesetzesänderungen im Energiesektor vorangebracht als alle Regierungen in den 30 Jahren davor.

Und was bedeutet der Ausbau für Ihre eigene IT-Landschaft?

Der Ausbau, aber vor allem das Ziel, hundert Prozent erneuerbare Energien durch unsere Netze laufen zu lassen, haben enorme Auswirkungen für einen Großteil unserer IT. Nehmen Sie als Beispiel die notwendige Digitalisierung der Genehmigungsverfahren.

Aber das ist nicht die Aufgabe von 50Hertz, oder? Da sind Sie abhängig von anderen.

Nur weil es nicht unsere unmittelbare Aufgabe ist, heißt das ja nicht, dass wir nicht mithelfen können. Heute braucht man bis zu drei voll beladene Transporter, um eine Leitung von den Behörden genehmigen zu lassen. Diese Transporter sind voll mit Antragsformularen und Dokumenten – aus Papier. Circa 36.000 Seiten. Und in den Behörden wird erst angefangen zu lesen, wenn der Antrag vollständig vorliegt. Das ist unfassbar.

Und übrigens: Digitalisierung heißt nicht, dass der Antrag einfach als PDF verschickt wird. Sondern die echte Digitalisierung würde beispielsweise bedeuten, dass gemeinsam – von Behörde und Antragsteller – an der Genehmigung gearbeitet wird. Das Dokument wird geteilt, zum Beispiel, wenn die Gliederung steht, und dann wird zusammen im iterativen, agilen Prozess der Antrag vorangebracht. So stelle ich mir das zumindest vor.

Bis es so weit ist, gibt es natürlich einige Hürden zu überwinden. Wir haben große Veränderungen vor uns – und wir müssen schnell sein. In Bezug auf die IT-Landschaft müssen wir uns fragen, wie wir die Systeme so gestalten können, dass sie unter Einhaltung aller Sicherheitsrichtlinien eine solche Kollaboration erlauben.

Die Auswirkungen auf unsere IT-Landschaft betreffen aber selbstverständlich nicht nur den Bereich Genehmigung, sondern auch das Planen und Bauen. Beispielsweise ist eine Leitung eine mehrere Hundert Kilometer lange Baustelle, an der wir an zahlreichen Stellen gleichzeitig tätig sind und durch Tausende von Grundstücken müssen. Sie können sich vorstellen, dass man diesbezüglich einiges mit digitalen Technologien machen kann.

Sie haben von Kollaboration im Rahmen der Genehmigungsverfahren gesprochen. Aber Digitalisierung heißt nicht zwingend kollaborativ zu arbeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Kritik an einem solchen Vorgehen groß ist, weil die Rollen vermischt werden. Die Behörde hat eine andere Aufgabe und Verantwortung als 50Hertz.

Digitalisierung ist meiner Meinung nach in erster Linie keine Frage der Technologie, sondern es geht vor allem um die Art der Arbeit. Es gilt, in integrierten Teams agil zu arbeiten. Und wo steht geschrieben, dass das an Unternehmensgrenzen Halt machen muss? Es ist natürlich schwierig. Aber nur, weil es schwierig ist, heißt es nicht, dass wir es nicht angehen sollten. Unsere Gesellschaft muss lernen – bei Einhaltung der notwendigen Governance-Vorschriften – diese Grenzen zu überwinden. Das heißt nicht, auf die jeweiligen Verantwortlichkeiten zu verzichten.

Wir müssen darüber reden. Aber gemeinsam und nicht jeder in seinem stillen Kämmerlein.

Zwischen „Leitz-Ordner hin- und hertragen“ und kollaborativ digital zusammenarbeiten liegen einige Schritte. Es ist die Frage, ob wir es uns noch leisten können, Zwischenschritte zu gehen. Ich weiß es nicht. Vielleicht müssen wir sie uns sogar leisten. Ich möchte aber mal in Erinnerung rufen, dass Tesla innerhalb von zwei Jahren eine Fabrik in Grünheide bauen konnte. Das war nur möglich, weil mit den Behörden kollaborativ gearbeitet wurde. Es geht also durchaus. Mir ist vor allem wichtig, dass nicht gegeneinander gearbeitet wird und jeder nur auf seine eigene Verantwortlichkeit schaut und diese abgrenzt von dem Bereich des anderen. Dieses Pingpong erzeugt die Friktion, die uns langsam macht.

Die Zusammenarbeit in Ihrem eigenen Unternehmen, beispielsweise zwischen IT und Business, muss sich allerdings auch verändern.

Ja, und zwar dramatisch. Ich glaube, dass die Verantwortung für die Digitalisierung des Business auch im Business liegen muss. Der Weg dorthin geht über eine Dezentralisierung der IT. Die Kern- IT schafft eine digitale Plattform, auf der dezentrale im Fachbereich verortete Produkt-Teams Software bauen können. Die Software-Entwickler kommen zwar aus meinem Bereich, sie verbringen jedoch 80 bis 90 Prozent ihrer Zeit als Mitglied in einem Produkt-Team, das vom Business geführt wird.

Hintergrund ist vor allem, dass wir IT-Kompetenz und beispielsweise die Fähigkeit, mit Daten umzugehen, im Business aufbauen müssen. Nur dann ist es möglich, den Fachbereich zu transformieren, sonst denkt der Fachbereich nur in Software-Paketen, die ihnen die IT liefern soll.

Wir arbeiten „Business-led“, also vom Business geführt. Das zweite große Thema, um den Wandel voranzutreiben, nennt sich „Citizen Development“.

Das Business wird befähigt, auch ohne IT-Entwickler selbst softwarebasierte Anwendungen zu erstellen.

Mit den heutigen Technologien ist es möglich, vollkommenes Chaos entsteht. Damit sind dann hochagile Iterationen möglich, ohne ständig bei der IT ein neues Projekt aufsetzen zu müssen.

Die IT hat dann keine Dienstleister-Funktion mehr?

Doch. Wir stellen die Plattform zur Verfügung und die betreiben wir auch. Und natürlich kommen die Rechenzentren, die Wide- und Local-Area-Netzwerke weiterhin von uns. Auch wer wo was macht, werden wir weiter koordinieren.

Wir wollen keine Doppelarbeit.

Diese Produkt-Teams mit ITlern, von denen Sie gesprochen haben, sind bei Ihnen aber noch nicht weit verbreitet. Sie haben ja auch gesagt, dass 50Hertz ein eher klassisches Unternehmen ist. Wie gelingt die Implementierung dennoch?

Wir sind am Anfang. Sie brauchen zu Beginn auf der Business-Seite einen Verbündeten, der bereit ist, die Veränderung zu wagen. Den hatte ich. Er hatte sogar die Idee dazu. Er war damals Abteilungsleiter und ist jetzt Bereichsleiter. Ich fand seine Idee spannend und bin damit auf seinen Chef, meinen Geschäftsführungskollegen Dirk Biermann, zugegangen, der für Märkte und Systembetrieb zuständig ist. Es war natürlich wichtig, dass wir ihn ebenfalls dafür gewinnen, ein gemischtes Produkt-Team aufzusetzen, das auf Basis einer Plattform arbeitet, mit der das Stromnetz gesteuert wird. Das war vor etwa zweieinhalb Jahren.

Hat der 50Hertz-CE O, Stefan Kapferer, das Vorhaben unterstützt?

Ja. Wir haben ein ähnliches Wertegerüst und ergänzen uns hinsichtlich der Skills, die für eine Transformation nötig sind, sehr gut. Er kommt eher aus der Politik, kann ein Thema gut vermitteln und politisch verankern. Ich komme aus dem Technologiesektor und bringe Fähigkeiten zur Digitalisierung und rund um neue Arbeitsweisen mit.

Es gab dennoch Widerstände im Unternehmen gegen das Vorhaben. Ein dickes Fell war durchaus nötig. Und ich war stets bereit, dieses Projekt zu schützen und habe immer wieder betont, dass alle, die etwas dagegen haben, sich an mich wenden sollen. Es ist keiner gekommen.

Wenn sie gekommen wären, hätte 50Hertz auch eine sehr reife Unternehmenskultur.

Natürlich passiert auch viel hinter den Kulissen. Dann gilt es, Kurs zu halten. Auf die Frage, wie man das neue Arbeiten implementieren kann, antworte ich deshalb: Es ist von immenser Bedeutung, dass man ein Beispiel, ein Projekt durchzieht.

Erzählen ist gut, zeigen ist besser.

Es braucht ein Erfolgsbeispiel. Das Team durfte auch machen, was es wollte – mit der expliziten Erlaubnis und Unterstützung von mir. Was herausgekommen ist, ist ein Team von etwa 50 Leuten mit einer starken Identität. Nun sind wir im dritten Jahr und mittlerweile kommen sogar Menschen außerhalb unseres Unternehmens zu uns, um sich diese digitale Plattform zur Steuerung des Stromnetzes anzuschauen. Mitarbeitende reden darüber auf Konferenzen. Und das ist gut so. Es ist wichtig, den Leuten zuzutrauen, dass sie das Richtige tun. Sie brauchen ein klares Zielbild und müssen befähigt werden, sodass sie in der Lage sind, den Weg dorthin zu gehen – ruhig auch mal im Zickzack.

Haben die zweieinhalb Jahre Arbeit des Produkt- Teams den Mehrwert gebracht, den Sie sich für das Unternehmen erhofft haben?

Ja. Wir sehen, dass die Fähigkeiten, die dieses Team erarbeitet hat, auch in einem völlig anderen Geschäftsbereich Anwendung finden können, nicht nur in der Systemführung, sondern ebenfalls im Offshore-Bereich. Damit haben wir nun zu 80 Prozent ein „Re-use“ der Software und wir haben die Geschwindigkeit erhöht. In Belgien und Schweden sieht man ebenfalls, dass man die Software verwenden kann. Das heißt, die andere, neue Art zu arbeiten verbreitet sich – ohne Zwang. Es reichen Transparenz und Freiwilligkeit.

Aber auch die Führungskräfte, die im zweiten Durchgang bereit sind, das Neue zu übernehmen, brauchen ein offenes Mindset.

Ja, absolut. Wir nehmen zunächst die „Low hanging fruits“ und gewinnen die Führungskräfte, die offen sind. Ich habe vorhin gesagt, dass das erste Produkt-Team machen konnte, was es wollte. Auf Dauer geht das natürlich nicht im Unternehmen. Wir entwickeln nun ein „Product Operating Model“ mit dem Ziel, die neue Zusammenarbeit in allen Bereichen des Unternehmens zu etablieren. In zwei Pilotbereichen haben wir damit angefangen. In Deutschland macht zum einen das erwähnte Team die Software zur Systemführung für das ganze Unternehmen. Und zum anderen gibt es ein weiteres Team in Belgien, das auf dieselbe Weise zu Customer Centricity arbeitet. Anhand dieser beiden Teams werden jetzt beispielsweise Fragen zu Budgetierung und Personal bearbeitet, die vorher beim Prototypen noch unbeantwortet geblieben sind.

Wo stehen Sie in Bezug auf den kulturellen Wandel bei 50Hertz insgesamt? Wie groß ist der Anteil, der cross-funktional, agil, weitgehend selbstorganisiert und mit einem offenen Mindset arbeitet?

In dem erwähnten Bereich sind wir sehr weit, bei etwa 80 Prozent. Da fehlen noch die Support-Bereiche HR, Finance, Einkauf. Das sind die nächsten, die dran sind. Aber auch erst einmal nur in Bezug auf den Bereich des Pilot-Teams. Man kann nicht den gesamten Einkauf oder die gesamte HR auf einmal ändern. Das sind die verbleibenden 20 Prozent. Insgesamt liegen wir im Unternehmen vielleicht bei zehn Prozent. Inzwischen melden sich jedoch mehr Bereiche, die mitmachen und Produkt-Teams gründen wollen, als wir momentan verdauen können.

Was bedeutet der Wandel für die Führungskräfte? Behalten sie ihre disziplinarische Macht oder müssen sie was abgeben in Zukunft?

Das ist genau der Wandel, vor dem wir derzeit stehen. Die Führungskräfte werden immer disziplinarische Verantwortung haben, aber in Zukunft eine andere. Ich werde vorangehen und meinen Bereich als Erstes reorganisieren.

Bisher haben meine Führungskräfte vor allem eine funktionale Verantwortung. In Zukunft werden sie als Chapter Heads agieren.

Sie werden die Verantwortung für zum Beispiel alle Entwicklerinnen und Entwickler, alle Architekten oder alle Security-Mitarbeitenden haben. Die Mitglieder der Chapters werden aber die meiste Zeit in besagten Produkt-Teams in ganz anderen Bereichen arbeiten. Die oder der Chapter Head hat vor allem die Aufgabe Talente zu finden, zu behalten, weiterzuentwickeln und ihnen eine fachliche Heimat zu bieten, wo sie sich austauschen können.

Wie in vielen anderen eher klassischen Unternehmen wird auch bei 50Hertz der Betriebsrat in puncto Transformation eine wichtige Rolle spielen. Wie ist Ihr Verhältnis zum Betriebsrat als jemand, der häufig „hart am Wind segelt“?

Ich würde sagen, ich habe ein interessantes Verhältnis zum Betriebsrat. Es gibt teilweise Themen, da bin ich mit dem Betriebsrat einig, aber mit dem Rest der deutschen Geschäftsführung nicht. Dann gibt es wiederum andere Themen, bei denen ich mit dem Betriebsrat überhaupt nicht einig bin.

Klar ist: In mitbestimmten Unternehmen kann man keine größeren Veränderungen am Betriebsrat vorbei gestalten – auch wenn das häufig bedeutet, dass die Prozesse länger dauern. Dennoch würde ich sagen, dass das deutsche System der Mitbestimmungm grundsätzlich sehr gut funktioniert – wenn beide Parteien an den Mitarbeitenden interessiert sind und nicht an den eigenen Positionen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 01/2023

 

Autor

Michael von Roeder
ist Chief Digital und IT Officer bei 50Hertz. Seit 2019 ist er als Mitglied der Geschäftsleitung und Mitglied des Steuerungsgremiums der belgisch-deutschen Elia Group für die IT und die digitale Transformation in der Gruppe zuständig. Er war zuvor CEO von Sensorberg. Bis Mitte 2016 verantwortete er den IT-Betrieb von Vattenfall. Von 2009 bis 2010 leitete er als COO und Geschäftsführer die iconmobile Gruppe.
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„Agile Arbeitsweisen sehen wir als Chance, eine nachhaltige Arbeitsumgebung zu schaffen“

Danone DACH ist auf dem Weg zur hybriden Organisation. Im Rahmen dieser Transformation setzt man vor allem auf drei strategische Säulen: ein agiles Mindset, crossfunktionale Teams und die „Agile Catalysts“. Was es mit dieser Community auf sich hat, erläutert Katja Maslo, Senior Agile Coach, im Interview. Außerdem spricht sie über die Erfolgsfaktoren der Transformation und warum ein „Test and Learn“-Ansatz bei Danone besonders wichtig ist.

Danone DACH befindet sich derzeit in einer agilen Transformation. Was war der Auslöser dafür, diesen umfassenden Wandel anzugehen?

Durch Agilität können wir unsere Arbeitsweise auf die schnell wechselnde Umgebung, in der wir uns befinden – die Komplexität des Business in der VUCA-Welt und New Work zum Beispiel –, anpassen. Wir haben nach Wegen gesucht, wie wir unsere Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der verändernden Bedingungen stärken und Wandel noch mehr als Chance begreifen können. Unser Ziel ist es, unsere Teams in dieser neuen Welt zu befähigen, effizient und effektiv zu arbeiten. Und was ganz wichtig ist: mehr Eigenverantwortung in die Teams zu geben.

Agile Arbeitsweisen sehen wir als Chance, eine nachhaltige Arbeitsumgebung für unsere Danoner zu schaffen und auch als Unternehmen unsere strategischen Ziele fokussiert zu erreichen. Der Ansatz hilft uns, besser zu priorisieren, die Kunden noch mehr in den Mittelpunkt zu rücken und fokussiert unsere Themen voranzutreiben.

Was, würden Sie denn sagen, sind die wesentlichen Säulen dieser Transformation?

Wir haben für uns in Danone DACH einen holistischen Ansatz gewählt, der auf drei strategischen Eckpfeilern beruht. An erster Stelle steht ein agiles Mindset, das als Kernelement in unserer Kultur verankert ist. Denn die agilen Werte und Verhaltensweisen bilden die Basis für unser Denken und Handeln in unseren Teams wie auch in unserer Führungskultur. Eine weitere – sehr wertvolle – Säule sind auch unsere agilen Piloten. Crossfunktionale Teams probieren sich im Rahmen eines „Test and Learn“-Ansatzes in strategischen Projekten aus und nutzen agile Methoden.

Für die Aktivierung der agilen Arbeitsweisen innerhalb der Teams sind unsere „Agile Catalysts“, unsere interne Community, von wesentlicher Bedeutung.

Und schließlich bilden unsere diversen Trainingsangebote einen wichtigen Pfeiler. Wir möchten ein Angebot schaffen, das jedem ermöglicht, sich zum Thema Agilität weiterzubilden. Daher haben wir ein breites Spektrum an Trainings – von den Basics bis hin zu Ausbildungen als Agile Coaches.

Ihr Anspruch ist es aber, wie ich gelesen habe, eine „hybride Organisation“ zu bauen, die agile Projektteams mit einem traditionellen Ansatz vereint. Warum streben Sie diese Mischform an und nicht eine komplett agile Organisation?

Es ist richtig, wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine hybride Organisation zu bauen, in der wir abhängig von unserem strategischen Fokus und unserem Kunden entscheiden, wie wir unsere Ressourcen verteilen. Entweder über den traditionellen Ansatz oder indem wir agile crossfunktionale Projektteams einrichten. So beschleunigen wir bei strategischen Themen unser Wachstum und die Wertschöpfung.

Als große Organisation gibt uns die übergreifende traditionelle Struktur Stabilität.

Manche Bereiche arbeiten sehr effizient und brauchen sich nicht zu verändern.

Andere Bereiche, wie Innovationsentwicklung oder „Data and Digital“, wollen wir völlig neu denken, um den Kunden in den Mittelpunkt zu rücken und die kollektive Intelligenz eines crossfunktionalen Teams zu nutzen.

Keine Angst, dass es zwischen den Einheiten, die unterschiedlich arbeiten, zu Reibungsverlusten kommt?

Wie bei anderen großen, klassisch organisierten Unternehmen auch, entstehen bei uns Reibungspunkte, wenn wir agile Projekte parallel zu klassischen aufsetzen. Der hybride Ansatz führt zu Herausforderungen, da unterschiedliche Führungsstile, Denkweisen und Prozesse aufeinandertreffen. Wichtig ist, dass wir diese Situationen mit den Teams ansprechen, auch um Resignation vorzubeugen. Wir nutzen beispielsweise Retrospektiven, um mögliche Verbesserungen zu identifizieren. Können die Schwachstellen nicht innerhalb der Teams gelöst werden, ist es wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, der diese Themen weitergibt. In unserem Fall sind das unsere internen Agile Coaches.

Sie sagten, Sie verfolgen einen „Test and Learn“-Ansatz. Wie sieht der beispielhaft aus?

Um eine Chance aus dem Wandel zu ziehen, bieten die verschiedenen agilen Methoden zusammen eine vielfältige Toolbox. Welche Arbeitsweisen in unseren Kontext passen und erfolgreich gelebt werden können, wussten wir zu Beginn allerdings nicht. So haben wir angefangen, im kleinen Rahmen mit einem Scrum- und einem Design-Thinking-Piloten zu experimentieren, um herauszufinden, wie uns agiles Arbeiten helfen kann. Das heißt, wir wählen bewusst spezifische crossfunktionale Teams aus, die sich innerhalb eines agilen Rahmens ausprobieren oder auch nur Elemente der agilen Arbeitsweise anwenden. Damit lernen wir, welche Arbeitsweisen für welches Thema in unserer Organisation funktionieren und welche weniger geeignet sind.

Daher ist der „Test and Learn“-Ansatz ein großer Erfolg. Denn es ist auch okay, wenn sich das agile Mindset erst mit dem Ausprobieren agiler Methoden und Arbeitsweisen im zweiten Schritt etabliert.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo eine veränderte Zusammenarbeit im Vergleich zu früher ganz besonders deutlich wird?

Ein schönes Beispiel ist unsere „Data and Digital“- Abteilung. Das Team hat sich zum Ziel gesetzt, agile Arbeitsweisen und eine Neuverteilung von agilen Führungsrollen in klassische und crossfunktionale Teamstrukturen einzuführen. Wichtig ist hierbei vor allem der Weg: weg vom Denken und Arbeiten in Silos und hin zu gemeinsamen Zielsetzungen und Prioritäten sowie die Ermächtigung der Teams, Entscheidungen dort zu treffen, wo die Expertise sitzt.

Das Führungsteam und einzelne Sub-Teams arbeiten dabei in abgestimmten iterativen Zyklen mit Planung, Review und Retrospektive. Die Sub-Teams werden dabei befähigt, ihre Themen zu bearbeiten, kreative Lösungen zu finden und Entscheidungen selbst zu treffen. Somit werden sie immer sicherer in ihrer Selbstorganisation und lernen, Eigenverantwortung zu leben.

Diese neuen Rollen und Arbeitsweisen zu lernen, ist nicht einfach und braucht Unterstützung.

Daher begleiten wir sie mit Agilen Coaches, die mit ihrer Expertise und dem Perspektivwechsel einen wertvollen Beitrag leisten.

Was, würden Sie sagen, sind die Erfolgsfaktoren, anhand derer sich entscheidet, ob die Transformation gelingt?

Eines der wichtigsten Elemente ist die fortwährende Unterstützung durch das Senior Leadership, gepaart mit dem Freiraum, uns in den verschiedenen Initiativen Schritt für Schritt auszuprobieren und dazuzulernen. Nicht weniger wichtig ist auch die Offenheit und die positive Einstellung unserer Danoner und Führungskräfte gegenüber diesem neuen Thema und dem Erlernen neuer Arbeitsweisen. Außerdem hat sich der Einsatz von Tandems von externen und internen Agilen Coaches für die Teambegleitung gerade am Anfang bewährt. Denn auch externe Expertise ist wichtig, wenn man ein neues Thema für sich als Organisation und im Team einführt bzw. erlernt.

Und was sind Ihrer Ansicht nach die größten Herausforderungen?

Eine der Herausforderungen, die uns bereits zu Beginn begegnet ist, ist das Thema Zeiteinsatz für die agilen Teams. Mit unserem Ansatz „We build while we fly“ hatten wir nicht die Möglichkeit, bestimmte Teams Vollzeit auf ein Thema zu setzen und sie aus ihrem Daily Business rauszunehmen. Die Kollegen hatten somit meistens eine Rolle in „beiden Welten“. Sich eine fokussierte Zeit für das Projektteam einzuräumen, ist also meist nicht einfach.

Die Koordination der Teamroutinen, auch in Kombination mit externen Agilen Coaches, bedarf ebenfalls viel Kommunikation und Organisation. Und einmal entwickelte Teamroutinen aufrechtzuerhalten, braucht viel Motivation und Disziplin. Gleichzeitig bringen alle Mitglieder und Stakeholder dann viele agile Elemente in ihre klassischen Teams ein.

Die Erklärung der agilen Arbeitsweise ist auch heute noch eine Hauptaufgabe.

Gleiches gilt für die Demystifizierung des Buzzwords „Agile“.

Auf der einen Seite klingt die agile Terminologie „trendy“ und macht Lust, die Dinge auszuprobieren. Und doch geben die Begriffe ebenso viel Interpretationsspielraum, was agiles Arbeiten eigentlich ist und was nicht. Daher setzen wir weiterhin viel Energie ein, um Begriffe wie „Self-Empowerment“, „Kanban“, „Retrospektive“, „Daily“ gut und einfach zu erklären, damit am Ende jeder das Gleiche darunter versteht.

Sie haben vorhin das interne Netzwerk aus „Agile Catalysts“ erwähnt. Welche Aufgabe haben sie genau und wie groß ist das Netzwerk?

Unsere „Agile Catalysts“ helfen uns die agile Arbeitsweise in die Teams zu tragen. Über verschiedene Lernangebote erweitern sie ihr Wissen rund um das Thema Agilität und wenden Elemente der neuen Arbeitsweisen innerhalb ihrer Abteilungen oder in den Projektteams an. Außerdem sind sie eingeladen, ihre Erfahrungen mit dem Netzwerk zu teilen, um sich gegenseitig zu inspirieren, auszutauschen und zu lernen. Aktuell sind circa 150 Danoner Teil unserer internen Community.

Wie sind Sie vorgegangen beim Aufbau dieses Netzwerks?

Zu Beginn sind wir mit einem sehr kleinen Netzwerk gestartet: den Kollegen und Kolleginnen, die sich von sich aus für das Thema Agilität sehr begeistern. Wir haben also auf freiwilliger Basis Enthusiasten gesucht, die uns unterstützen, die neuen Ansätze in die Organisation zu tragen. Wir haben schnell gesehen, wie viel diese bewirken.

Was würden Sie sagen, haben Sie bisher persönlich aus dieser Transformation gelernt, wenn es um das Begleiten von Wandel geht?

Da wir uns noch immer mitten in der Transformation befinden, lernen wir jeden Tag mit unseren Teams dazu.

Persönlich nehme ich mit, dass das Verständnis und die Erläuterung der Dringlichkeit, warum es einer Veränderung bedarf, an erster Stelle stehen. Das heißt, alle Ebenen der Organisation – ob Sponsor, Stakeholder, Teams oder Individuen – müssen von Beginn an abgeholt werden: Es muss klar sein, warum es wertvoll ist, sich von der traditionellen Arbeitsweise zu lösen. Denn Neues zu lernen, braucht viel Motivation und Begeisterung. Das bedeutet auch, das trendige Wort „Agile“ in einfach allgemeinverständliche Worte zu fassen. Wichtig ist mir auch das Thema „Team Ramp-up“. Eine gemeinschaftliche Klärung des Auftrags, der Rollen und der Normen der Zusammenarbeit ganz zu Beginn ist essenziell, um als Team in einer Einheit, effizient und effektiv zu arbeiten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

 

changement! Heft 08/2022

 

Autorin

Katja Maslo ist Senior Agile Coach bei Danone DACH. Sie ist leidenschaftlicher Change Agent und leitet seit 2020 die agile Transformation bei Danone DACH. Sie ist seit elf Jahren bei Danone beschäftigt und hat fundierte Erfahrungen im Bereich Projektmanagement, Controlling, Change Management sowie im Umfeld von Operations und Supply Chain. Katja Maslo ist zudem zertifizierter Business und Personal Coach sowie Scrum Master und Product Owner.
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„Am Ende geht es um das große Ganze“

Sophie von Saldern hat lange professionell Basketball gespielt, bevor sie in die freie Wirtschaft wechselte. Heute ist sie Global Head of HR bei Covestro und spricht im Interview darüber, was Spitzenteams ausmacht, warum Feedback wichtig ist und was in Sachen Teamarbeit die Wirtschaft vom Sport lernen kann.

Frau von Saldern, Sie haben bis 2007 sehr erfolgreich Basketball gespielt. Sie waren Nationalspielerin und haben mehrmals mit ihrem Team die Deutschen Meisterschaften gewonnen. Wenn Sie Ihre Zeit im Basketball ganz allgemein mit Ihrer heutigen Arbeit in der freien Wirtschaft vergleichen: Was vermissen Sie heute am meisten?

Die Erfolgsgefühle, die mit völliger körperlicher Erschöpfung verbunden waren, das fehlt mir schon. Die Momente, in denen der Körper von Glückshormonen durchströmt wurde. Das ist in der Corporate-Welt doch deutlich abgeschwächter.

Im Sport lassen sich Erfolg und Misserfolg klarer voneinander abgrenzen.

Wenn wir in die Unternehmenswelt blicken, dann gibt es sehr viel mehr Schattierungen zwischen schwarz und weiß bei der Bewertung von Erfolg und Leistung.

Manche ehemalige Sportler und Sportlerinnen, die heute in der freien Wirtschaft tätig sind, sagen, ihnen fehle das direkte Feedback, das sie aus dem Sport kennen. Können Sie das nachvollziehen?

Absolut. Das Feedback im Sport ist unmittelbar, direkt und geradeheraus. Leistungssportlerinnen und Leistungssportler erhalten den ganzen Tag über Feedback, denn genau das ist der Job des Trainers: kontinuierliche Rückmeldung. Daraus entwickelt sich eine verinnerlichte Leistungsorientierung. Die Frage, an welchen Stellen ich noch besser werden kann, das Tausendfache Wiederholen einer Bewegung bis zur Perfektion, die am Ende nie wirklich erreicht wird. Das stetige Feedback des Trainers, das immer wieder den Fehler in den Blick nimmt: Das alles führt zu einer Einstellung, die geprägt ist durch permanentes „an sich arbeiten“ und persönliches Wachstum, „sich weiterentwickeln wollen“.

In der freien Wirtschaft ist die Feedback-Kultur nicht so unmittelbar.

In der Unternehmenswelt setze ich mich als Personalerin dafür ein, dass das Feedback bei der Führungskräfteentwicklung sinnvoll in einem Gespräch eingerahmt wird. Unsere Führungskräfte werden sehr gut darauf vorbereitet, kritisches Feedback wertschätzend zu formulieren. Spontaneität geht hierdurch verloren und die Feedback-Frequenz sinkt. Das ist natürlich wichtig, weil im Arbeitsumfeld eine ganz andere Dynamik herrscht, ein ganz anderer Ton und eine andere Sprache als im Sport.

Manchmal frage ich mich jedoch selbstkritisch, ob die unmittelbare Bewertung einer Leistung wieder gezielter gefördert werden muss, beispielsweise zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden. Sprich: Wie schaffen wir eine Vertrauensbasis, die so stabil ist, dass sie spontanes negatives Feedback ohne Einleitung und Einrahmung aushält?

Was macht Ihrer Einschätzung nach generell ein gutes Team im Basketball aus?

Kurz und knapp: Ein gutes Team besteht aus uneigennützigen Einzelspielern, die sich bewusst dem gemeinsamen Ziel unterordnen, die ihre Rolle kennen und diese akzeptieren. Etwas weiter ausgeholt: Natürlich besteht ein gutes Team aus hervorragenden, genialen und ehrgeizigen Einzelspielern und Einzelspielerinnen, die ihr Können unter Beweis stellen müssen. Jede Spielerin hat ihre Rolle, ihre Talente, ihre Stärken. Ein Team muss sich reiben, denn durch diese Reibung wird es besser. Das Individuelle wird ausgelebt und manchmal auch ausgetragen. Genauso arbeitet jede Einzelne auch für sich an der persönlichen Weiterentwicklung, Tag für Tag.

Und was unterscheidet die absoluten Spitzenteams im Basketball vom Rest? Sind es am Ende doch geniale Einzelspielerinnen?

Am Ende geht es um das große Ganze, das Ziel lautet: gewinnen. Spitzen-Teammitglieder fordern sich heraus und spornen sich dadurch in der Vorbereitungsphase an, damit jede oder jeder das Beste aus sich herausholt. Sobald es aber um das große Ziel geht, sprich, ein Spiel zu gewinnen, zeichnen sich die Spitzen-Teams dadurch aus, dass jede Einzelne, jeder Einzelne sich zurücknimmt, genau die eigene Rolle kennt, ausfüllt und so zum gemeinsamen Teamerfolg beiträgt. In den Top-Mannschaften schaffen es diese ehrgeizigen Ausnahmetalente, als Team stark zu sein und das Einzelkämpfertum im entscheidenden Moment hinter sich zu lassen. Die gemeinsame Vision ist wichtiger als die individuelle Eitelkeit.

Wenn Sie einmal an Teams bei Covestro denken und im Besonderen an interdisziplinäre Teams: Was können diese bezüglich guter Zusammenarbeit vom Teamsport wie dem Basketball lernen?

Wir müssen zum Beispiel verstehen, dass Teams dynamisch sind. Es ist in Ordnung, viel zu diskutieren, konstruktive Kritik zu üben und andere Teammitglieder damit auch ab und an zu „challengen“. Innerhalb der Teams ist Wettbewerb positiv – aber in den alles entscheidenden Momenten muss das Team zusammenhalten. Ich muss also als Teammitglied genau wissen, in welcher Phase des Projektes sich mein Team befindet, damit ich das Verhalten des Teams in den richtigen Kontext setzen und deuten kann.

Die Lernkurve liegt darin, zu verstehen, wann wir uns selbst hintenanstellen und anderen die Bühne überlassen, um gemeinsam zu glänzen. Und wann es gilt, Verantwortung zu übernehmen und zu zeigen, dass der Erfolg des Teams wichtiger ist als Einzelleistungen.

Was wir außerdem lernen sollten: Leistung ist kein stabiles Konstrukt. Es gibt entscheidende Momente, da müssen wir Leistung abrufen können. Der Sportvergleich macht es deutlich: Ein Training erfordert eine andere Leistung als ein Spiel, ein Spiel wieder eine andere als eine Meisterschaft, und so weiter. Im Unternehmen herrscht oft die Vorstellung, Leistung sei stabil. Dies entspricht für mich einfach nicht der Realität der Leistungserbringung. Jede Sportlerin und jeder Sportler kennt gute und schlechte Trainings, Wochen oder gar ganze Saisons. Sogar innerhalb eines Tages kann die Leistung schwanken. So volatil ist Leistung am Ende.

Welche Rolle spielen generell Teams für die Kultur und die Wertschöpfung von Covestro? Würden Sie sagen, die Bedeutung von Teams hat sich in den vergangenen Jahren verändert?

Ja, die Bedeutung von Teams und Teamkonstellationen hat sich aufgrund der Komplexität der Welt massiv verändert. Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Entscheidungen nicht mehr von Einzelpersonen getroffen werden können. Eine Vielfalt an Perspektiven ist unabdingbar, um gute Entscheidungen zu treffen, in denen viele Blickwinkel reflektiert werden. Diverse Teams spielen daher eine riesige Rolle für Covestro, da es die Diversität unserer Mitarbeitenden braucht, um globalen Herausforderungen und Entscheidungen gerecht zu werden.

Digitale Produkte, Prozesse, Geschäftsmodelle: Covestro steckt mitten in einer digitalen Transformation. Wie verändert die Digitalisierung die Teamarbeit bei Covestro?

Die Digitalisierung führt zu Veränderungen auf ganz vielen Ebenen. Durch digitale Prozesse können wir Innovationen und Weiterentwicklungen viel schneller vorantreiben. Aber, wie schon beschrieben, verändern sich ebenfalls die Anforderungen an jeden Einzelnen. Wir müssen Digitalisierung in jedem Punkt mitdenken, von Mitarbeitendenkommunikation über das Nutzen digitaler Tools, von den Bedürfnissen der Mitarbeitenden bis hin zum Begleiten eines steten Transformationsprozesses.

Und welche Kompetenzen müssen Mitarbeitende heute vor allem mitbringen, um erfolgreich in agilen Teams zu agieren?

Das Thema Agilität ist wichtig, aber hier gibt es für mich derzeit zu viele Buzzwords. Eine Kompetenz, die deutlich stärker ausgeprägt sein muss, ist, die hohe Frequenz hinsichtlich veränderter Rahmenbedingungen erfolgreich zu managen. Dies bedeutet unter anderem, sich emotional auf ein beschleunigtes Veränderungstempo einzulassen, und dabei in der Lage zu sein, richtige Entscheidungen zu treffen und ein Team zusammenzuhalten. Es geht ja nicht um ein Projektmanagement, dass plötzlich agil ist, sondern die steten Veränderungen, die alles betreffen, was wir in unserem betrieblichen Alltag erleben.

Welche Angebote gibt es vonseiten der HR , damit Teams bei Covestro in diesen herausfordernden Zeiten erfolgreich handeln können?

Derzeit arbeiten wir an einem Programm, dass die Befähigung zur Transformation stärken soll. Wir wollen der Belegschaft Möglichkeiten zum individuellen Upskilling bieten, damit Kompetenzen, die zukünftig an Wichtigkeit gewinnen, möglichst früh erlernt werden. Hierzu starten wir konzernweit ein Transformation-Enablement-Programm.

Würden Sie sagen, die Personalentwicklung bei Covestro hat einen ausreichenden Fokus auf Teamentwicklung? Oder liegt der Fokus ausschließlich auf den Individuen?

Das ist eine schöne Frage. Ich sehe das so: Die Entwicklung startet natürlich beim Individuum. Jede Einzelne, jeder Einzelne sollte sich die Frage stellen, welche Rolle sie oder er im Kontext des Teams hat. So kommt schnell die Frage auf, was man selbst zum Erfolg des Teams beitragen kann. Hier werden also beide Seiten der Medaille betrachtet. Denn nur, wenn ich mich als Individuum reflektiere und weiterentwickeln kann, tue ich das auch in meiner Rolle als Teammitglied.

So ziemlich jeder und jede sagt, er oder sie arbeite gerne im Team. Trifft das auf Sie auch zu?

Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, nicht im Team zu arbeiten! Bei jedem Erfolgserlebnis, aber auch bei Misserfolgen, spüre ich den Impuls, dies sofort mit dem Team teilen zu wollen. Das Team ist meine Energiequelle und ein ganz wesentlicher Faktor, wieso mir mein Job so viel Spaß bereitet.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

changement! Heft 07/2022

 

Autorin

Sophie von Saldern ist Diplom-Ökonomin und hält einen Master in Arbeits- und Organisationspsychologie. Als Global Head of Human Resources verantwortet sie die globalen Personaltätigkeiten der Covestro AG. Die ehemalige Basketball-Nationalspielerin engagiert sich unter anderem im „Verein Sportler für Organspende“ (VSO), ist Botschafterin der Sportstiftung NRW und unterstützt den Verein Basketball Aid, der krebskranken Kindern hilft.
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Der Wirtschaftspsychologe Carsten C. Schermuly hat seine Vision einer besseren Arbeitswelt veröffentlicht. Er nennt sie eine „New-Work-Utopie“. Im Interview spricht er über sein Verständnis von New Work, warum es mehr ist als hybride Arbeit und weshalb psychologisches Empowerment eine zentrale Rolle spielen sollte.

Herr Prof. Schermuly, was ist für Sie in einem Satz „New Work“?

Für mich persönlich sind New Work Maßnahmen, die das Ziel haben, das psychologische Empowerment der Mitarbeitenden zu steigern – das heißt, das Erleben von Kompetenz, Sinn, Selbstbestimmung und Einfluss am Arbeitsplatz.

Ist „New Work“ nicht auch ein diffuser Sehnsuchtsbegriff, die Sehnsucht nach einer besseren Welt, unter der jeder etwas anderes versteht?

Es ist noch schlimmer. Es ist ein Container-Begriff, in den viele hineinwerfen, was sie wollen und auch herausholen, was sie möchten.

Der New-Work-Begriff wird derzeit brutal mikropolitisch instrumentalisiert.

Wenn die Geschäftsführung die Bürofläche um 20 Prozent reduzieren möchte, dann sind Open-Space-Büros auf einmal New Work. Wenn ein Coach Achtsamkeitskurse verkaufen möchte, dann wird das als New Work postuliert. Und natürlich wird Agilität oder Holokratie in die New-Work-Walhalla aufgenommen, wenn ein Beratungsunternehmen darauf spezialisiert ist.

Sie haben vom „Empowerment der Mitarbeitenden“ gesprochen. Das bedeutet für mich, es muss jemand geben, der einen anderen „befähigt“. Es klingt nach mehr Freiraum in einer hierarchischen Organisation. Kommt man mit dem Begriff „Empowerment“ auch in selbstorganisierten, agilen Organisationen weiter?

Man kommt damit nicht nur weiter, sondern es ist sogar zwingend notwendig, sich damit zu beschäftigen. Denn es reicht nicht, nur die Strukturen zu empowern, sondern man muss ebenfalls die Menschen, die in diesen selbstorganisierten Strukturen arbeiten müssen, empowern. Zudem ist der psychologische Empowerment-Ansatz breiter.

In selbstorganisierten Organisationen wird der Schwerpunkt auf die Autonomie gelegt, aber das ist viel zu wenig. Menschen müssen sich am Arbeitsplatz zusätzlich kompetent erleben, vor allem auch im Umgang mit der Autonomie. Und das Erleben von Sinn und Einfluss bzw. Macht sind enorm wichtig. Es hilft wenig, viel Autonomie bei einer sinnlosen Tätigkeit zu haben.

Warum ist psychologisches Empowerment Ihrer Meinung nach grundsätzlich so wichtig heutzutage in der Arbeitswelt – für den Einzelnen, aber auch für die Unternehmen?

Weil die nationale und internationale Forschung zeigt, dass das psychologische Empowerment sehr viele positive Konsequenzen hat. Es hat positive Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit und die Bindung an das Unternehmen. Die Mitarbeitenden handeln proaktiver, innovativer und sind leistungsfähiger. Dazu kommt, dass die emotionale Erschöpfung, der Stress und sogar die Depressionsneigung gesenkt werden können. In einer Studie konnten wir zeigen, dass psychologisches Empowerment sogar dazu führt, dass Mitarbeitende erst später in Rente gehen.

Vier Dimensionen hat das psychologische Empowerment: Bedeutsamkeit, Selbstbestimmung, Einfluss und Kompetenz. Welche Dimension ist der größte Hebel?

Die vier Dimensionen sind gleichberechtigte Säulen des Gefühls von Empowerment. Fehlt eine, reduziert sich das Gefühl signifikant.

Gemäß Ihrer New-Work-Definition: Wie weit sind die Unternehmen in Deutschland „auf dem Weg zu New Work“?

Ich bin überrascht, wie viele kleine, aber auch große Unternehmen sich mittlerweile mit dem Empowerment-Ansatz beschäftigen. Attraktiv scheint zu sein, dass psychologisches Empowerment messbar ist. Man kann also vor der Etablierung von New-Work-Initiativen messen, wie stark das psychologische Empowerment bei verschiedenen Gruppen im Unternehmen ausgeprägt ist und dann gezielt Maßnahmen einsetzen, um das Erleben von Sinn, Selbstbestimmung, Einfluss oder Kompetenz zu fördern.

Kann man sagen, dass erst Corona dem neuen Arbeiten einen echten Schub gegeben hat?

Ja und nein. Es hat vor allem dem Thema Homeoffice einen Schub gegeben. Wenn ich New Work als Möglichkeit zur hybrider Arbeit verstehe, dann ja. Aber das ist nicht mein Verständnis.

Aber kann man vielleicht sagen, dass die Möglichkeit zum Homeoffice ein wichtiges Symbol in Bezug auf ein selbstbestimmtes Arbeiten ist?

Es ist viel zu oft ein Pflaster auf dem Holzbein. In dem Sinne: „Schaut her, ihr dürft jetzt Homeoffice machen, jetzt ist aber mal gut mit dem New-Work-Gedöns.“ Hybride Arbeit allein wird die Herausforderungen der VUCA-Welt nicht lösen. New Work muss mehr als Homeoffice sein. Das werden viele Unternehmen bald spüren.

Das erste Axiom, das erste Arbeitsprinzip der entworfenen New-Work-Organisation in Ihrem Buch „New Work Utopia“ lautet: „New Work dient dem Unternehmen und nicht das Unternehmen New Work“. Wie ist das gemeint?

New Work wird im Unternehmen Stärkande, anhand dessen ich in meinem Buch die New Work Utopia schildere, nicht so praktiziert, dass sie einem Trend oder einer Ideologie entspricht. Neue Arbeit wird so gestaltet, dass sie zum wirtschaftlichen Erfolg von Stärkande beiträgt und den Mitarbeitenden ein gutes Leben und psychologisches Empowerment ermöglicht. Und die Arbeitsorganisation stellt der Arbeit kein Bein.

In manchen Organisationen ist Zusammenarbeit durch New Work so komplex geworden, dass wenig Zeit für die Produktion und die Produktentwicklung übrigbleibt. Das System überfordert das System und die Menschen.

Nicht so bei Stärkande. Hier müssen der Arbeitsalltag und das soziale System verständlich sein. Deswegen gilt bei dem Unternehmen folgende Regel: Kann ein New-Work-Element einem neuen Mitarbeitenden nicht innerhalb kurzer Zeit so erklärt werden, dass er oder sie es versteht, dann muss es überarbeitet oder verworfen werden.

Die Mitarbeitenden sollen durch New Work entlastet und nicht belastet werden.

Was würden Sie empfehlen, was man als Unternehmenslenkerin für erste Schritte gehen sollte, um ernst zu machen mit New Work? Eine Wertediskussion führen? Den Ist-Zustand analysieren? Eine Mitarbeiterbefragung machen? Oder mal im Kleinen ein kleines Team komplett agil arbeiten lassen?

Ich präferiere hier sehr einen diagnostischen Ansatz. Bevor operiert wird, lasse ich mich ja auch erst einmal untersuchen. Bevor ich mit New-Work-Maßnahmen am Arbeitsleben von Menschen und dem Erfolg des Unternehmens „herumdoktere“, ist Organisationsdiagnostik notwendig. Wir wissen aus der Expertise-Forschung, dass Amateure erst mal anfangen und dann schnell scheitern. Expertinnen und Experten verschaffen sich zuerst einen Überblick.

Lesetipp

Carsten C. Schermuly (2022):
New Work Utopia: Die Zukunftsvision einer besseren Arbeitswelt, Haufe

Anhand des fiktiven Unternehmens „Stärkande“, das über 1000 Mitarbeitende hat, beschreibt Carsten C. Schermuly seine Vision hinsichtlich einer besseren Arbeitswelt und wie New Work gelebt werden kann. Dabei fokussiert er auf unterschiedliche Themenbereiche wie beispielsweise Leadership on demand, New-Work-Kultur und New Pay. Das Buch ist ein „Best of“ der New-Work-Organisationsentwicklung.

 

Ein anderes Axiom in Ihrem Buch lautet „Leadership on demand – zweckmäßiger statt zwanghafter Einsatz von Führung“. Und Sie schreiben dazu: „… Auch weil Führungskräfte teuer sind, sollten sie nur dann eingesetzt werden, wenn sie tatsächlich nützlich sind“. Ist Führung nicht ohnehin etwas, dass die Geführten dem Führenden zusprechen müssen? Führung heißt immer „Führungsbeziehung“.

Das würde ich so unterschreiben. Bei Stärkande werden die Kreise dann geführt, wenn sie Führung brauchen. Das kann immer sein. Das kann in einer Phase sein. Und manche Kreise – vor allem die kleinen mit zwei, drei oder vier Personen – kommen auch gut allein zurecht.

Es ist doch wirklich Wahnsinn, dass in Deutschland fast jedes Team eine Führungskraft vorgesetzt bekommt.

Das ist wie beim Militär. Was für eine Verschwendung von Ressourcen!

Vieles Ihrer „New-Work-Utopie“ wird von manchen Unternehmen heute schon gelebt. Andere wiederum sind sehr weit davon entfernt. Was denken Sie, wie die Entwicklung in den kommenden Jahren weitergehen wird?

Bei Stärkande werden viele bekannte, aber auch vollkommen neue New-Work-Maßnahmen eingesetzt. Das Spannende ist, wie die Stärkanderinnen zu diesen Maßnahmen gekommen sind und wie sie diese miteinander kombinieren. Das war ein organischer Prozess, der 20 Jahre gedauert hat und weiter fortgesetzt wird. Change ist immer!

Ich kann nicht in die Zukunft schauen, aber ich erwarte, dass sich im Bereich der wissensintensiven Industrien manche Unternehmen auf eine kontinuierliche Reise in den Bereichen New Work und Digitalisierung begeben werden. Sie werden immer wieder an schwierige und schmerzhafte Punkte kommen, aber diese bewältigen. Sie werden eine künstliche Intelligenz schaffen, die den Mitarbeitenden Zeit für Kooperation und Kreativität ermöglicht. Andere Unternehmen hören nach der Betriebsvereinbarung zum Thema Homeoffice auf und werden weiterhin googeln.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

 

changement! Heft 05/2022

 

Autor

Carsten C. Schermuly
ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Vizepräsident für Forschung und Transfer an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Darüber hinaus ist er an der SRH geschäftsführender Direktor des „Institutes for New Work and Coaching (INWOC)“. Er forscht vor allem zu diesen beiden Themenbereichen. 2021 wurde er vom Personalmagazin als einer der 40 führenden HR-Köpfe gekürt. Carsten C. Schermuly hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht, unter anderem „Erfolgreiches Business Coaching“ und „New Work – Gute Arbeit gestalten“.
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Mit dem sogenannten Full Flex Office können Mitarbeitende bei Vodafone seit dem Herbst des vergangenen Jahres selbst entscheiden, wo und wie sie arbeiten. Das hybride Arbeitsmodell soll maximale Flexibilität ermöglichen. Im Interview sprechen Felicitas von Kyaw, Geschäftsführerin Personal, und Carolin Rudy, Head of Culture and Development, darüber, warum sie auf Selbstbestimmung setzen und wie sie dafür sorgen, dass in Zukunft das Wir-Gefühl nicht auf der Strecke bleibt.

Frau von Kyaw, Sie sind seit Anfang des Jahres bei Vodafone. Was ist Ihr primärer Auftrag als Geschäftsführerin Personal?

Felicitas von Kyaw: Die Agenda entsteht im Wesentlichen durch den Austausch mit den Stakeholdern aus dem Business. Vodafone ist, so wie viele andere Unternehmen auch, auf einer Veränderungsreise.

Wir befinden uns in der Transformation zu einer „Tech Comms Company“.

Und es ist die Aufgabe unseres HR-Teams, diese weiter mitzugestalten.

Anfang des Jahres habe ich Interviews mit dem Business geführt. HR wird bei Vodafone als Partner auf Augenhöhe gesehen. Wir haben ein klares und starkes Mandat, Veränderungen voranzutreiben. Dabei geht es allerdings nicht nur um Organisationsentwicklung.

Wir sind ein People Business. Deshalb ist eine ebenso wichtige Aufgabe, die Menschen durch den vielfältigen Wandel und in den verschiedenen Veränderungs- Kontexten zu begleiten – und sie entsprechend „fit zu machen“ für diese Veränderungen. Wir werden sicherlich einen Schwerpunkt auf das Thema „Fähigkeiten und Kompetenzen“ legen. Das hat bereits vor meinem Start bei Vodafone begonnen. Es gibt zum Beispiel schon tolle Angebote wie den „Spirit Day“, bei dem alle Mitarbeitenden einen Tag ausschließlich für ihre persönliche Weiterbildung nutzen können.

Frau Rudy, bei Vodafone gilt seit Oktober 2021 ein hybrides Arbeitsmodell und das sogenannte Full Flex Office. Das Konzept war sehr präsent in den Medien. Was ist die Philosophie hinter dem Full Flex Office?

Carolin Rudy: Die Philosophie hinter dem Flex Office ist einfach: Wir haben das Vertrauen in die Mitarbeitenden, dass sie selbstständig gut entscheiden können, wo sie arbeiten. Wir wollten bewusst weggehen von vorgegebenen Prozentzahlen. Wir waren mit dem Thema vielleicht auch deshalb sehr präsent in den Medien, weil wir manch anderem Unternehmen einen Schritt voraus sind. Bei Vodafone
sind wir nämlich seit neun Jahren an das Homeoffice und das virtuelle Arbeiten gewöhnt und haben bereits früher bis zu 50 Prozent Homeoffice. Deshalb fiel uns die Entscheidung relativ leicht, nun den Schritt weiterzugehen und ganz auf Prozente zu verzichten.

Auch auf komplizierte Prozesse haben wir bewusst verzichtet und gesagt: Uns geht es um die Selbstbestimmtheit. Die Corona-Zeit hat unser Vorhaben beflügelt, weil wir zum einen gesehen haben, dass das virtuelle und vertrauensbasierte Arbeiten gut funktioniert. Zum anderen gab es von den Mitarbeitenden das eindeutige Feedback, nicht zum alten Modell zurückkehren zu wollen, sondern die Flexibilität und Freiheit im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit noch zu steigern.

Was würden Sie sagen, sind die Kernelemente des Full Flex Office? Ist es vor allem ein Arbeitszeit- und Arbeitsortmodell?

Carolin Rudy: Nein, es ist deutlich mehr. Es ist ein umfassendes Konzept. Die Grundaussage ist: Jeder arbeitet da, wo er oder sie das möchte. Es muss nichts beantragt oder vertraglich geregelt werden. Eine Mitarbeiterin kann also zum Beispiel sagen, dass sie in diesem Monat 90 Prozent von zu Hause arbeitet. Dann kommt sie drei Tage ins Büro und ist danach zwei Wochen nur im Homeoffice.

Es gibt aber auch genauso Kolleginnen und Kollegen, die möchten nur im Büro arbeiten, weil zu Hause die Bedingungen nicht gut passen fürs Homeoffice.

Das heißt, insgesamt gibt es eine höchstmögliche Flexibilität innerhalb eines Rahmens, den wir gesetzt haben. Wir haben uns gefragt, was die Mitarbeitenden im Homeoffice brauchen, um gut arbeiten zu können. Unserer Ansicht nach gehört dazu unbedingt eine ergonomische Ausstattung des Homeoffices, die wir deshalb zur Verfügung stellen. Hier bieten wir ein umfangreiches Paket: Mitarbeitende können einen großen Bildschirm, einen ergonomischen Stuhl und eine ergonomische Maus beantragen. All dies kommt dann bequem per Lieferdienst nach Hause. Ein weiterer Benefit für die Beschäftigten ist auch die Möglichkeit, eine Gutschrift auf den Internet-Anschluss im Homeoffice zu erhalten.

Ebenso bieten wir einen umfangreichen Unfall-Versicherungsschutz für die Mitarbeitenden im Homeoffice. Solche Benefits sind für das Employer Branding nach innen und außen enorm wichtig.

Nicht zuletzt gibt es die Möglichkeit, bis zu 20 Tage pro Jahr im EU-Ausland zu arbeiten.

Damit kann beispielsweise der Spanien-Urlaub um eine weitere Woche verlängert werden, in der dann vom Urlaubsland aus gearbeitet wird. Es ist ein weiterer Beitrag zu mehr Flexibilität. Diese Regelung ist sehr gut angenommen worden – und sie hat auf positive Art hohe Wellen bei uns geschlagen, weil es etwas wirklich Neues war. So etwas muss natürlich sehr gut geplant und steuerrechtlich geprüft werden. Sie sehen, es ist am Ende durchaus ein komplexes Projekt, aber vor allem ein attraktives Gesamtpaket geworden.

Felicitas von Kyaw: Diese umfangreichen Angebote zeigen, dass wir unsere Mitarbeitenden bestmöglich unterstützen wollen. Dazu zählt noch ein weiterer Aspekt: Nämlich, dass sie die für die virtuelle Arbeitswelt relevanten Fähigkeiten weiter ausbauen können. Das können Schulungen der Führungskräfte zum virtuellen Führen sein oder die Förderung der Zusammenarbeit im Team in der digitalen bzw. hybriden
Arbeitswelt. In dieser ist mehr denn je eine gemeinsame Vertrauensbasis notwendig. Und das bedeutet dann auch einen weiteren Schritt in Richtung Vertrauenskultur in der gesamten Organisation.

Frau Rudy, Sie sagen, jeder Mitarbeitende kann selbst entscheiden, wo er oder sie arbeiten möchte. Ist der Mitarbeitende aber auch aufgefordert, seine Entscheidung hinsichtlich des Arbeitsortes transparent zu machen bzw. anzukündigen, wie er oder sie in der kommenden Woche oder im nächsten Monat arbeiten möchte?

Carolin Rudy: Nein. Es muss nicht angekündigt oder irgendwo eingetragen werden. Aber es gibt die Empfehlung, dass der Mitarbeitende mit der Führungskraft darüber spricht, was er oder sie in Bezug auf den Arbeitsort plant.

Beispielsweise habe ich mit den Mitgliedern meines Teams darüber geredet, welches Modell ihnen persönlich vorschwebt. Der eine möchte eher einmal pro Woche ins Büro kommen, andere häufiger, weil sie sich vielleicht zu Hause einsam fühlen. All dies wird vertraglich nicht festgehalten und muss nicht angekündigt werden. Das Einzige, was formell beantragt und im System erfasst werden muss, ist das Arbeiten im EU-Ausland.

Hat die Führungskraft kein Vetorecht, wenn sie zum Beispiel der Meinung ist, dass das gewählte Arbeitsmodell den Teamerfolg gefährdet?

Carolin Rudy: Wir haben durchaus klar kommuniziert, dass Vodafone keine 100-prozentige Homeoffice-Company sein will. Das bedeutet,
dass es immer Gelegenheiten im Team oder in einem Bereich geben wird, bei denen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort sein sollten. Ich denke beispielsweise an ein Bereichs-All-Hands-Event, ein Strategie-Meeting oder ein Teamentwicklungs- Workshop. Dann hat die Führungskraft die Möglichkeit zu sagen: „Ich hätte gerne an diesem Tag alle Teammitglieder vor Ort.“ Wir haben mit den Betriebsräten geregelt, dass das mit ausreichend zeitlichem Vorlauf – im besten Falle zwei Wochen – angekündigt wird und nicht von heute auf morgen passiert.

Und wenn unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen?

Carolin Rudy: Wir gehen davon aus, dass das jeweilige Verhältnis von Führungskraft und Mitarbeitendem so gut ist, dass man alles besprechen und lösen kann. Es gibt grundsätzlich kein generelles Vetorecht einer Führungskraft, was das Full-Flex-Office-Prinzip an sich angeht. Wir setzen hier auf den Dialog.

Das eigentliche hybride Arbeiten im Sinne von verteilten Teams, deren Mitglieder sowohl vor Ort im Büro als auch mobil arbeiten, verläuft nach Ansicht vieler Führungskräfte in anderen Unternehmen oft unbefriedigend. Ist die Gestaltung einer effektiven hybriden Zusammenarbeit auch bei Vodafone ein Thema?

Carolin Rudy: Ja. In der Pandemie-Zeit war es noch relativ einfach, da gab es in der Regel eine demokratische Verteilung in Meetings, weil sich so gut wie alle virtuell eingewählt haben. Zukünftig wird aber sicherlich ein hybrides Arbeitsmodell stärker gelebt. Die Teams zu befähigen, ein solches Modell effektiv und fair zu gestalten, ist eine wichtige Aufgabe. Wenn beispielsweise fünf Leute wegen eines Meetings in einem Raum sitzen und drei wählen sich von zu Hause ein, dann sollte es in dem Raum keine Gespräche geben, die die drei virtuellen Teilnehmenden nicht mitbekommen. Auf so was muss geachtet werden. Wir haben zudem Methoden-Unterlagen für die Teams vorbereitet, die bei der Durchführung von hybriden Workshops helfen. Es gibt klare „Ways of Working“, wie hybrides Arbeiten funktionieren kann. Und nicht zuletzt unterstützen wir unsere Teams und Führungskräfte auch mit Trainings und anderen Instrumenten.

Gleichzeitig sollen die Teams darauf achten, dass die Verbundenheit nicht verloren geht. So haben viele für sich einen festen Team-Tag vereinbart, an dem alle im Büro sind und an dem man gemeinsam zusammen Mittagessen geht.

Frau von Kyaw, was ist für eine erfolgreiche Führung besonders wichtig in so einem hybriden Arbeitsmodell, wenn Mitarbeitende sich an verteilten Orten befinden?

Felicitas von Kyaw: Führen anhand von Ergebnissen anstelle Präsenz gewinnt weiter an Bedeutung. Die Führungskraft muss damit zurechtkommen, die Mitarbeitenden nicht mehr die ganze Zeit im Büro zu sehen. Sie muss Gestaltungsfreiraum geben sowie über Ergebnisse führen und Eigenverantwortung fördern. So dass die Teammitglieder gut in ihre Kraft kommen. Ich bin davon überzeugt, dass
Vertrauen, Verantwortung und Eigenmotivation weitaus produktiver machen als die Führungskraft im Nebenzimmer.

Aber gibt es nicht das Risiko, Mitarbeitende, die sehr viel zu Hause arbeiten, gegenüber denjenigen, die viel im Büro sind, zu benachteiligen?

Carolin Rudy: Zum einen entscheidet jeder selbst, wann er wo arbeitet. Und das Full Flex Office gilt auch für jede Führungskraft, die ebenfalls viel im Homeoffice sein kann. Zum anderen haben wir auch für diesen Kontext handlungsleitende Führungsprinzipien entwickelt, die einer möglichen Benachteiligung entgegenwirken. Dazu gehören das oben genannte Führen über Ergebnisse, aber beispielsweise auch klare Kriterien zur Erkennung und Förderung von Potenzialträgern im Konzern.

Seit wann ist das neue Konzept des Full Flex Office in Kraft bei Vodafone?

Carolin Rudy: Seit Oktober 2021. Wir haben allerdings bisher keine umfassenden Erfahrungen mit allen Elementen des Modells gemacht, weil der Zutritt zum Büro coronabedingt immer noch eingeschränkt ist. Es gibt für die Büros und die Besprechungsräume reduzierte Höchstgrenzen. Viele Teams konnten das Full Flex Office deshalb noch nicht wirklich leben, weil sie zum Beispiel noch nicht als komplettes Team vor Ort zusammengearbeitet haben.

Mit welchen besonderen Herausforderungen rechnen Sie in der nächsten Zeit in Bezug auf das „neue Arbeiten“?

Felicitas von Kyaw: Die meisten Unternehmen haben jetzt die Herausforderung, neu zu gestalten und die richtige Mischung zu finden. Ein starkes Miteinander und gute Beziehungen brauchen auch ab und an ein physisches Miteinander, brauchen Präsenz. Das gilt ebenso für eine starke, gemeinsame „hybride“ Kultur. Es ist wichtig, eine gute Balance zu finden: Wann lohnt es sich, ins Büro zu kommen? Wann ist es wichtig, in eine gemeinsame Zeit vor Ort zu investieren? Wann arbeiten wir virtuell, weil wir uns vielleicht schon gut kennen und uns nur kurz austauschen müssen? Diese richtige Balance zu finden, ist für den Einzelnen genauso wichtig wie für das Team, die Abteilung und die
ganze Organisation.

Carolin Rudy: Wir haben bei Vodafone diesbezüglich schon interessante Beobachtungen gemacht. Zum Beispiel, dass, wenn man ins Büro geht, man seinen Tag anders strukturiert als es in der Vergangenheit der Fall war. Der Büro-Tag wird nicht mehr mit Meetings vollgestopft, die man genauso virtuell machen kann. Es wird bewusst Freiraum geschaffen fürs Netzwerken und für Austausch – zum Beispiel beim Lunch. Die Mitarbeitenden gehen jetzt ins Büro, um das Verbindende zu stärken und weniger, um Standardaufgaben zu erledigen, wie beispielsweise Telefonate zu führen, Excel-Tabellen auszufüllen oder Präsentationen zu erarbeiten. Das geht weiterhin gut im Homeoffice.

Wir haben im Übrigen die Pandemiezeit gut genutzt, um die Büroräume weiter zu verändern. Der Vodafone Campus war schon vorher ein attraktiver und lebendiger Ort mit Open Desk Policy, Desk Sharing und tollen Besprechungsräumen und Kaffeeküchen. Nun haben wir die Räume für Vernetzung und Begegnungen nochmal erweitert. Die Zahl der Plätze für Austausch und Arbeit im Projektteam wurde deutlich erhöht. Unsere Transformation betrifft aber nicht nur den Campus, sondern ebenfalls unsere regionalen Bürostandorte – insgesamt wird mehr als die Hälfte unserer Belegschaft neue Bürokonzepte bis Ende des Jahres erleben können.

Können Sie einmal erläutern, auf welchem Weg das Full-Flex-Office-Konzept entstanden ist? Was waren die Meilensteine? Gab es zum Beispiel ein Zielbild?

Carolin Rudy: Ja.

Wir haben ein Zielbild vorformuliert, das deutlich machte, was „mehr Flexibilität“ für uns bedeutet.

Denn das haben wir angestrebt. Wir waren aber ergebnisoffen und hatten noch keine Vorstellung, wohin genau die Reise geht. Wir haben sehr früh als cross-funktionales Projektteam daran gearbeitet und auch die Geschäftsführung einbezogen. Denn es ist elementar, schnell das Commitment, das „Buy-in“, der obersten Ebene zu haben.

Auch die Mitbestimmungsseite wurde früh einbezogen. Mit einem externen Universitätsinstitut wurde zudem eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt, die die Bedürfnisse der Beschäftigten abgefragt hat. So wurde eine objektive Grundlage für ein mögliches, zukünftiges Arbeitsmodell geschaffen. Die Ergebnisse waren so eindeutig, dass wir mit den Betriebsräten am Ende eine gute Lösung entwickeln konnten. Das war ein wichtiger Punkt.

Und wir haben viel Wert auf Kommunikation gelegt, um Reaktionen zu bekommen und um immer wieder über Zwischenergebnisse und Updates zu informieren. Außerdem gab es ein Sparring-Board aus Führungskräften, mit dessen Hilfe wir regelmäßig reflektieren und Chancen und Risiken abwägen konnten.

Vodafone geht einen anderen Weg als viele andere Konzerne, die bewusst ein hybrides Arbeitsmodell als Standard formulieren und das beispielsweise drei Tage Office vorsieht. Sie haben auf solche Vorgaben verzichtet und überlassen es der Entscheidung des Einzelnen. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass die Büros leer bleiben?

Felicitas von Kyaw: Ich bin überzeugt von der hybriden Arbeitsweise. Es braucht beides: einerseits das Arbeiten vor Ort mit den anderen – vor allem, um gute Beziehungen zu gestalten, zu netzwerken und auch um gemeinsam zu arbeiten – sowie andererseits das Arbeiten von zu Hause, um Flexibilität zu ermöglichen. Dieses Mischmodell wird sich insgesamt durchsetzen.

Gibt es Befragungsergebnisse, aufgrund derer Sie eine durchschnittliche Anwesenheit im Büro schätzen können? Oder ist es ein Stück weit ein Blindflug nach der Pandemie?

Carolin Rudy: Es ist kein Blindflug. Wir haben durch Befragungen erste Meinungsbilder erfragt. Und bei uns ist es so, dass jeder sich seinen Schreibtisch bucht, einen Tag bevor er oder sie ins Büro kommt. Mithilfe der Buchungssysteme werden wir also eine gewisse Planungssicherheit bekommen. Aber klar: Wir müssen noch Beobachtungspunkte sammeln, wenn Corona mehr Freiheiten erlaubt.

Das dauerhafte Arbeiten von zu Hause führt in der Regel dazu, dass die Identifikation mit der Organisation abnimmt. Die Herausforderung wird hoch bleiben, wenn Menschen an unterschiedlichen Orten arbeiten. Welche Maßnahmen gibt es, um das Wir-Gefühl bei den Mitarbeitenden zu fördern?

Carolin Rudy: Da gibt es einiges auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist das Team für das Wir-Gefühl ein wichtiger Faktor. Es gab und gibt Workshop-Kick-offs, in denen Teams sich darauf verständigen, wie sie sich sehen wollen, wie sie inklusiv bezüglich der Meeting-Kultur bleiben können oder wann sie im Büro als Team zusammenkommen.

Wenn die Beschränkungen endgültig fallen, wird unser Campus eine noch größere Rolle für das Wir-Gefühl spielen. Die Mitarbeitenden schätzen es, sich dort auszutauschen und zu vernetzen, sich an der Café-Bar zu treffen. Es gibt eine Kantine, ein Fitness-Studio, ein Medical-Center. Das alles führt dazu, dass man in regelmäßigen Abständen immer wieder gerne im Büro sein möchte. Diese Bürowelt ist sehr attraktiv.

Ich verstehe, dass es den persönlichen Austausch vor Ort braucht, das Netzwerken, die Beziehungen. Aber reichen dafür nicht auch die Teeküche und die Kantine? Warum brauchen wir das Büro noch?

Felicitas von Kyaw: Es braucht den persönlichen Austausch vor Ort – nicht nur in der Teeküche, sondern ebenfalls in kreativen, beruflichen Kontexten.

Meetingräume und Kreativflächen sind notwendig, um im Miteinander gute Gedanken und Ideen entstehen lassen zu können.

Entsteht Kreativität nur vor Ort und nicht digital?

Felicitas von Kyaw: Nein, das würde ich so nicht sagen. Mir geht es nicht nur um Kreativität oder das Erarbeiten von Neuem, um Innovation, sondern auch um die strategische Arbeit, das Vertiefen von Themen oder das Bearbeiten von Konflikten. Das geht alles auch irgendwie digital. Wir haben in der Pandemie-Zeit gesehen, dass es funktionieren kann. Doch vor Ort können wir diese Themen intensiver
besprechen, die gemeinsame Arbeit ist in Präsenz noch facettenreicher, wir können im Austausch mehr nonverbale Kommunikation und besser Stimmungen und Emotionen wahrnehmen. Es hat eine andere Qualität. Wir erleben und fühlen das Miteinander in einer anderen Dimension.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 05/2022

 

Autorinnen

Felicitas von Kyaw
ist seit Januar 2022 Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin bei Vodafone Deutschland und verantwortet den Bereich Personal. Sie hat umfangreiche Erfahrung im Bereich Human Resources, Change und Transformation Management sowie im Umfeld Marketing und Sales. In der Vergangenheit war sie unter anderem bei Coca-Cola Europacific Partners Deutschland, Vattenfall sowie Capgemini Consulting tätig. Felicitas von Kyaw ist auch systemische Beraterin und Coach. Seit 2017 ist sie zudem Präsidiumsmitglied im Bundesverband der Personalmanager (BPM).
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Carolin Rudy
ist bei Vodafone seit sechs Jahren in der Verantwortung als „Head of Leadership, Development & Engagement“. In dieser Position hat sie neben dem Full-Flex-Office-Projekt auch die Integration von Unitymedia auf der People- und Change-Seite begleitet. Zuvor war Carolin Rudy zehn Jahre bei der amerikanischen Management-Beratung DDI für internationale Kunden sowie als HR Business Partner beim
französischen Industriekonzern Saint-Gobain tätig.
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Ist hybrides Arbeiten wirklich das „Neue Normal“?

Einen Teil der Woche im Büro, den anderen im Homeoffice oder unterwegs – eine solche Mischung scheinen sowohl Mitarbeitende als auch Arbeitgeber gut zu finden. Ist das hybride Arbeitsmodell der neue Standard? Wir haben nachgefragt.

Flagship-Store der Arbeitgebermarke

„Die Frage, wie hybrides Arbeiten zu organisieren ist, missverstehen viele Unternehmen als To-do, Anwesenheitsregeln zu formulieren. Ich verstehe die Herausforderung anders. Es gilt, zwei gewichtige Interessen auszubalancieren. Auf der einen Seite erleben Mitarbeitende die Vorteile von Remote Work, können hier auch produktiv sein und fragen sich, warum sie denn erst mit Bus oder Bahn in die Firma fahren sollten. Auf der anderen Seite aber braucht gerade eine Kreativagentur wie Achtung! eine starke Kultur sowie ein kreatives Miteinander. Wir haben uns daher entschieden, an der Attraktivität der Agenturräume zu arbeiten, sodass alle von sich aus gern in die Agentur kommen. Wir haben die Räume umgestaltet, eine Bar gebaut und in ein Bistro investiert. Wir organisieren spannende interne Events. Es kommen anregende „Guest Speaker“ und regelmäßig steht ein Food Truck vor der Tür. Die Vision ist: Unsere Räume sollen zum Flagship-Store unserer Arbeitgebermarke werden. Sie sollen anziehen, inspirieren und immer wieder überraschen.“

 

 

Mirko Kaminiski, CEO der Kreativagentur Achtung!

 

Zwischen Flexibilität und Einsamkeit

„Die vergangenen beiden Jahre haben zu einem Umdenken in vielen Führungsetagen geführt. Hybrides Arbeiten ist für Wissensarbeitende mittlerweile das „New Normal“ und wird auch zukünftig Bestandteil der Arbeitswelt sein. Vieles wird noch ausgelotet. Das geht von „Unternehmen vertrauen ihren Beschäftigten, zu entscheiden, wann und für welche Tätigkeiten es sinnvoll und erforderlich ist, ins Büro zu kommen“ bis hin zu einer Mindestzahl an Präsenztagen, um Kontakte zu pflegen und ein Wir-Gefühl zu schaffen.

Personalverantwortliche müssen die richtige Mischung für die eigene Unternehmenskultur finden, die die Arbeitskräfte, die jeden Tag im Betrieb sein müssen, nicht vergisst. Es geht darum, Spaltungen der Belegschaft vorzubeugen, aber dennoch möglichst viel Flexibilität zu gewähren. Dabei müssen Performance und Wellbeing beachtet werden, damit der Kurs – wenn nötig – schnell nachjustiert werden kann.“

 

 

Inga Dransfeld-Haase, „Senior Partner People & Culture BP Europa DACH“ und Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager:innen

 

Das Unternehmen als sozialer Ort

„Die kurze Antwort: Ja, zumindest überall da, wo ortsunabhängiges Arbeiten tätigkeitsbedingt möglich ist. Natürlich werden auch in Zukunft Autos in der Montagehalle gefertigt und Haare im Friseursalon geschnitten. Aber die vergangenen zwei Jahre haben einfach zu überzeugend gezeigt, wie viele Tätigkeiten und Prozesse auch mit substanzieller Virtualität erledigt werden können. Die Erwartungshaltungen der Mitarbeitenden dazu sind auch klar gestiegen. Aber das heißt nicht, dass das „neue Normal“ so virtuell wie möglich sein sollte. Auf die Mischung wird es ankommen, um das „Beste beider Welten“ dauerhaft wirklich gut, produktivitätsorientiert sowie auch mit Blick auf die soziale
Gemeinschaft und die soziale Eingebundenheit zu gestalten. Das Unternehmen auch als sozialer Ort muss konzeptionell gedacht und gestaltet sein. Das bedeutet ebenfalls, dass das bisherige Konzept des
Büros überdacht und angepasst werden sollte. Wir brauchen dort vielfältigere, auf Aktivitäten basierte Zonierungskonzepte, die Begegnung, Projektarbeit, Kommunikation und Innovation unterstützen.“

 

 

Dr. Josephine Hofmann leitet die Abteilung Zusammenarbeit und Führung am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation Stuttgart

 

changement! Heft 05/2022