Schlagwortarchiv für: Ausgabe 09/2024

„Viele der neuen Ansätze sind sehr naiv.“

Warum scheitern große Unternehmen häufig mit der Einführung neuer Organisationsformen? Dieser Frage ist Torsten Groth mit einem Team im Rahmen eines Forschungsprojektes nachgegangen. Im Interview spricht der systemische Berater über die Gründe des Scheiterns, über die Kluft zwischen der „LinkedIn-Welt“ und seinem Erleben, die post-agile Phase hierzulande und woran es liegt, dass Organisationen sich selbst vergessen.

Wie hat sich die Art und Weise, wie Entscheidungen in Organisationen entstehen, verändert in den vergangenen Jahren? Was beobachtest du?

Aktuell erlebe ich, dass ein Großteil der Organisations- und Führungsmodelle hinterfragt wird. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass standardisierte Regeln und bewährte Routinen nicht ausreichen, um die zunehmende Komplexität zu bewältigen. Und sie werden auch den Ansprüchen der Mitarbeitenden – von der Mitwirkung bis hin zur Selbstverwirklichung – nicht gerecht. Die Lösungsidee dafür scheint häufig, die Vielfalt der Entscheidungsfragen in größeren, gleichberechtigteren Gremien zu bearbeiten. Hierarchiefreiheit wird als Motor der Entwicklung betrachtet. Man will die Qualität der Entscheidungen dadurch verbessern, dass mehr Perspektiven eingebracht werden können.

Doch oft beobachte ich keine Verbesserung, im Gegenteil:

Die Verunsicherungslage in vielen Unternehmen nimmt eher zu.

Das Bestehende, die klassische Hierarchie, infrage gestellt, aber nichts Neues an ihre Stelle gesetzt wird, das für Letztentscheidungen sorgt: Man weiß oft, wie man nicht mehr entscheiden will, aber nicht, wie es besser geht. Alle lehnen Hierarchie ab, beschweren sich aber über ermüdende Sitzungen. Unseres Erachtens liegt dies daran, dass die neueren Modelle, die im Trend liegen, meist nicht so einfach funktionieren, wie sie es versprechen.

Wie wichtig ist es eigentlich, dass Führungskräfte ihre Organisation verstehen, in der sie sich bewegen, um Veränderungen anzustoßen?

Sehr wichtig, doch die Sogwirkung der Interaktion ist groß. Damit meine ich, dass Mitarbeitende wie Führungskräfte das persönliche Zusammenspiel in der Organisation intensiv erleben – mal freudig, mal genervt, oft auch als Mikropolitik, also die kleinen strategischen Winkelzüge und Spielchen im Alltag. Dabei verlieren sie das große Ganze aus dem Blick. Niklas Luhmann sagte einmal: „Organisationen vergessen sich selbst.“ Das beantwortet schon zur Hälfte deine Frage. Organisationen und ihre Akteure sind sich nicht bewusst, in welchem Systemkontext sie agieren und erkennen daher nicht angemessen das Ausmaß, wie stark der organisationale Rahmen das Handeln prägt. Deswegen besteht eine meiner wichtigen Interventionen darin, dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende und Führungskräfte nachvollziehen können, in welcher Organisation sie agieren.

Dieses Unterfangen ist alles andere als trivial. Die Menschen können meist Geschichten über ihr Leben in der Organisation erzählen, anekdotenhaft. Aber sie haben wenig Bewusstsein für den Typus und die Logik der Organisation. Oft fehlt das Verständnis für die grundlegenden Strukturen und Spannungen, die wir auch als Paradoxien bezeichnen. Ein Beispiel: Jeder Bereich einer Organisation soll eigenständig arbeiten, aber gleichzeitig muss auch das Gesamtziel der Organisation im Blick bleiben. Widersprüche dieser Art sind strukturelle Bestandteile jeder Organisationsform, doch häufig werden sie nicht als solche reflektiert. Hier hilft ein theoretisch fundierter Blick, um diese Paradoxien zu verstehen und dadurch ein tieferes Verständnis für die eigene Organisation zu entwickeln.

Wie groß ist die Bereitschaft der Mitarbeitenden und Führungskräfte, sich auf diesen Prozess einzulassen?

Die Bereitschaft ist am größten, wenn eine Organisation eine schwierige Phase durchlebt, die sie mit den eigenen Bordmitteln nicht bearbeiten kann, oder auch wenn Einzelne in ihren Rollen überfordert sind, dann ist die Offenheit für neue Erklärungsmodelle da. Beratungen haben es insofern leichter, da zu ihnen Kunden fast immer nur kommen, wenn diese ein Problem haben – und nicht, wenn es ihnen gut geht. Und egal, ob es um ein Coaching, die Begleitung von Führungsteams oder Organisationsveränderungsprozesse geht: Der Anlass ist immer, dass die bisherige Praxis nicht mehr funktioniert und die Vorstellung, wie das eigene Unternehmen zu sein hat, nicht mit dem Alltag übereinstimmt. Das heißt, es gibt ein Diskrepanzerleben. Das ist der Startpunkt. Und dann gilt es, deutlich zu machen, wie das konkrete Problem beispielsweise mit Unsicherheitsbearbeitung, strukturellen Konflikten und/oder bestimmten Paradoxien verknüpft ist.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Organisation, den eigenen Verhaltensweisen ist der erste Schritt, Probleme zu lösen und damit auch Veränderungen zu gestalten?

Ja, bevor wir uns mit den Veränderungen beschäftigen, steht die Frage im Raum: Wie schauen wir auf die Organisation? Wir versuchen, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie der aktuelle Zustand entstanden ist, setzen uns also mit dem Status quo auseinander und erklären dessen Zustandekommen. Wichtig ist auch: Wir werten den Status quo bewusst nicht ab – stärker noch – wir praktizieren ein „funktionales Reframing“. Es geht um ein positives Bewerten, im Sinne von: Wozu war es gut, dass wir uns bisher nicht verändert haben? Was müssen wir auch zukünftig erhalten? Erst wenn wir dieses gemacht haben, reflektieren wir mit dem Kunden, „wohin die Reise gehen soll“. Ohne ein „Wozu“, ohne ein Zielbild keine Veränderung. Ins Verhältnis gesetzt, würde ich sagen, es sind 75 Prozent „Arbeit am Status quo“, damit die 25 Prozent „Veränderung“ richtig gut gelingen.

Das ist ein anderer Ansatz als ihn viele klassische Change-Ansätze verfolgen, die die volle Energie in das Neue investieren: Wo müssen wir agiler werden? Wo müssen wir digitalisieren? Was ist unser Purpose? Wohin entwickeln sich andere Unternehmen? In diesem Vorgehen wird der Status quo oft zu wenig bis gar nicht mitgenommen. Damit bleibt auch das Gute, das Gelingende auf der Strecke. Ich bin überzeugt: Organisationen können sich – wie alle evolutionären Systeme – nur vom Status quo aus weiterentwickeln. Deswegen:

Man kann man es sich nicht leisten, den Status Quo zu ignorieren.

Aber ist es nicht möglich, während man das Neue gestaltet, etwas über sich selbst zu erfahren und zu lernen?

Sicher, auch dann lernen alle, das geht wahrscheinlich gar nicht anders. Der Unterschied liegt darin, worauf ich den primären Fokus lenke: Auf das, was „wegsoll“ oder auf das, „was bleiben kann“. Der Fokus auf das, was „wegsoll“, birgt die Gefahr, dass man den Status quo und die Menschen, die diesen hergestellt haben, abwertet und Widerstand erzeugt.

Übrigens, aus dieser Sorge vor dem Widerstand lagern viele Unternehmen Veränderungen in Projekte oder Stabsstellen aus. Doch diese Abkopplung führt nicht selten dazu, dass die Veränderungen keinen echten Einfluss auf die alltägliche Organisation haben. Unsere Erfahrung zeigt, wie gesagt, dass es entscheidend ist, zuerst zu verstehen, wie der Status quo erzeugt wurde und was an den bestehenden
Strukturen bewahrt werden muss, bevor man Veränderungen angeht. So arbeitet man nicht gegen den Widerstand der Organisation, sondern mit ihm.

Du hast mit deinem Team vor einiger Zeit ein Forschungsprojekt mit dem Titel „New Organizing“ initiiert. Worum ging es euch dabei genau?

Der Anlass für dieses Forschungsprojekt war die Beobachtung, dass das, was in der Beratungs- oder „LinkedIn-Welt“ unter den Stichworten Selbstorganisation, Agilität, Holacracy, New Work als moderne Ansätze propagiert wird und dem, was wir in vielen Jahren an Veränderungsprozessen in großen Organisationen erleben haben, sehr weit auseinander lag.

Wo genau lagen die Unterschiede?

In der medialen Rezeption wurden immer wieder bestimmte Modelle gehypt, die stets mit denselben Unternehmen bzw. einem bestimmten Unternehmenstypus verknüpft waren, oft junge Dienstleistungsorganisationen, die nicht mehr als etwa 200 Mitarbeitende haben. Aber in unserer Beratungspraxis haben wir derartige Modelle in größeren Konzerneinheiten oder Familienunternehmen nicht beobachten können.

Wir wollten untersuchen bzw. haben untersucht, wie neue Organisationsformen jeweils eingeführt worden sind – oder auch nicht. Dafür haben wir unsere swf-Alumni angeschrieben und letztlich 45 Forscherinnen und Forscher gefunden, die Lust hatten, bei dem Projekt mitzumachen. In kleineren Gruppen haben sie qualitative empirische Forschung betrieben, viele Interviews geführt und letztlich 14 Fallstudien erstellt. Meine Kollegen Gerhard Krejci, Stefan Günther und ich haben die Fallstudienarbeit begleitet und die einzelnen Studien auf Gemeinsamkeiten hin ausgewertet. Die Frage, die über allen Interviews stand, war: Wie gelingt „New Organizing“?

Unter den „neuen Organisationsformen“ lassen sich ja, wie du erwähnt hast, sehr unterschiedliche Ansätze zusammenfassen. „Agilität“ ist zum Beispiel sehr allgemein, „Scrum“ hingegen ist konkreter; „Holacracy“ ist konkret und sehr komplex und „New Work“ ein sehr diffuser Begriff. Diese Ansätze lassen sich doch eigentlich nicht vergleichen, oder?

Wir haben ganz bewusst diffus gefragt, weil wir auch untersuchen wollten, was die jeweiligen Organisationen konkret machen – unabhängig von der Frage, wie sie es benennen. Ein zentrales Ergebnis war zum Beispiel, dass Unternehmen häufig diffus von Agilität oder New Work sprechen, aber das, was sie letztlich umsetzen, wenig mit den ursprünglichen Konzepten zu tun hat. Beispielsweise wird „Agilität“ sehr unterschiedlich verwendet. Für die einen ist es skaliertes Scrum, für die anderen die Einführung von Homeoffice. Und allein schon, wie solche Begriffe in die Organisation eingeführt werden, ist sehr spannend. Die Konzepte werden häufig als Feigenblatt eingesetzt:

Es wird zwar von neuen Organisationsformen gesprochen, aber in der Praxis bleibt vieles beim Alten.

Oder kleine Initiativen werden aufgebauscht.

Aber warum kommt es zu dieser Kluft? Warum gelingt es meist nicht, diese modernen Ansätze in den größeren Organisationen zum Leben zu bringen?

Wir haben zahlreiche tolle Initiativen gesehen – meistens bottom-up getrieben –, die voller Elan gestartet wurden, aber dann entweder isoliert blieben oder nicht nachhaltig in die Abläufe und den Alltag der Organisationen integriert werden konnten. Die Initiativen erlahmten, obgleich sie zum Teil erfolgreiche Projekte hatten.

Beispielsweise hat eine Forschergruppe einen Turbinenbauer untersucht, bei dem durch die Umstellung auf ein agiles Arbeiten mit der Hälfte der Mannschaft effizienter gearbeitet werden konnte als vorher. Und trotzdem ist das Projekt an der Gesamtorganisation gescheitert, weil es nicht gelang, das agile Arbeiten in die Abläufe der Organisation zu bekommen.

Und woran liegt das? Sind die Abwehrkräfte der Organisation einfach zu stark oder fehlt die Unterstützung des Top-Managements?

Ein Hauptgrund für das Scheitern vieler Initiativen – egal ob top-down oder bottom-up – ist die mangelnde kontinuierliche Unterstützung durch die oberste Führungsebene. Die Initiativen wurden kurzfristig gepusht, aber dann von anderen Initiativen abgelöst. Zudem fehlte die Anbindung der neuen Methoden an die strategische Überlebensfrage der Organisation. Neues muss eine Antwort auf die wettbewerbsrelevanten technologischen und organisationalen Fragen bieten. Das gelingt meist nicht. Viele Ansätze driften in die Sozialdimension des Miteinanders ab, vor allem die Initiativen, die unter „New Work“ laufen. Sie entwerten sich selbst und werden entweder als nettes Projekt betrachtet – solange es der Organisation gut geht – oder aber als Pflicht, weil neue Mitarbeitende danach fragen.

Ein weiteres Problem ist, dass sich viele dieser Ansätze stark auf Teamarbeit und Selbstorganisation fokussieren, dabei aber nicht die Gesamtorganisation mit ihren Organisationslogiken und strategischen Herausforderungen im Blick haben. Sie sind sozusagen antiorganisational konzipiert.

Lassen sich vielleicht Unternehmen ab einer gewissen Größe gar nicht mehr bewegen?

Größere Organisationen verändern sich oft nur durch den externen Druck, der vielleicht auch die Existenz infrage stellt. Diese Veränderungen erfolgen recht spät und sind dann häufig drastisch, wie man gerade bei VW sieht.

Aber bezogen auf die Einführung von neuen Organisationsformen ist die Größe eines Unternehmens ein Problem.

Sicherlich, das Problem bei den von uns untersuchten Fällen, war vor allem, dass die Initiativen nicht die Überzeugungskraft in der Tiefenstruktur der Organisation hatten. Sie konnten keine besseren Alternativen zu den vorhandenen Routinen bieten. Die Verfahren innerhalb der Organisation, die Hierarchieebenen, die Karrierewege, die Entlohnungswege – all das prägt Handeln. Viele der neuen Organisationsmodelle sind diesbezüglich sehr naiv und es werden beispielsweise einfach Zusammenarbeitsaspekte im Team hochgerechnet auf die Organisation.

Was erlebst du nun bei den Unternehmen, die neue Organisationsformen eingeführt haben, aber merken, es funktioniert nicht?

Als Berater werde ich derzeit häufiger von Unternehmen angefragt, die sich in einer post-agilen Phase befinden – auch in unseren Weiterbildungen höre ich das immer häufiger. „Post-agil“ heißt dann leider auch, dass erst mal die Scherben aufgesammelt werden müssen, die durch überzogene Erwartungen an Hierarchiefreiheit entstanden sind – um es mal bildlich auszudrücken. Diese Unternehmen scheinen jetzt – zum Glück – öfter Systemiker zu holen. Aber ich als Systemiker blicke da natürlich nicht neutral drauf.

Vor Kurzem war ich zum Beispiel bei einem Unternehmen, das eine Bereichsleiterebene herausgenommen hat mit dem Ziel, die Selbstorganisationskraft zu erhöhen. In der Logik einer Zirkelorganisation wurden hierarchiefreie Gremien rund um Produkt- und Kundengruppen eingeführt, mit durchaus vorzeigbaren Ergebnissen: vor allem die Kundenzufriedenheit wurde erhöht – leider zu erhöhten Kosten.

Bei der Frage, wie man nun die Kundeninteressen und das Kostendenken zusammenbringt, waren die Gremien massiv überfordert. Es kam, wie mir berichtet wurde, zu endlosen, ergebnislosen Diskussionen, sodass das Engagement in den Gremien erlahmte. De facto konnten in den Zirkeln nur noch die netten kleinen Verbesserungen besprochen werden, harte Entscheidungen wurden nicht getroffen, sondern an den Vorstand delegiert.

Geschichten wie diese erlebe und höre ich recht oft. Unternehmen, die ursprünglich das Ziel hatten, schneller und agiler zu werden, überfordern sich in den Gremien und der Vorstand klagt über eine zu hohe Entscheidungslast.

Was haben Unternehmen wie in deinem Beispiel übersehen bei ihrer Transformation?

Sie haben übersehen, dass es Hierarchisierung in diesen Gremienstrukturen braucht.

Durch die implizite oder auch explizite Einführung von Gleichheitsideen verlieren die Organisationen ihre Entscheidungsfähigkeit.

Fehlt es an Hierarchie oder braucht es nicht mindestens ebenso eine gewisse Reife der Diskussions- und Konfliktkultur?

Mit Reifemodellen kann ich wenig anfangen. Es braucht nicht unbedingt die Hierarchie als Organisationsprinzip, sondern es muss eine Idee von Hierarchisierung geben. Es muss klar sein, was im Zweifelsfall unternehmerisch wichtiger ist. Ist es uns wichtiger, hier lange zu diskutieren oder ist es wichtiger, schnell zu einer Entscheidung zu kommen und sich dafür ein Stück weit zurückzunehmen? Ein geteiltes
Verständnis davon zu haben, dass es besser ist, zu entscheiden, als nicht zu entscheiden, ist beispielsweise auch die Hierarchisierung einer Idee. Wenn du nach Reife fragst, dann würde ich eher von „organisationaler Spielfähigkeit“ sprechen, also die Fähigkeit, trotz erwartbarer Widersprüche Entscheidungen treffen zu können.

Du hast von der post-agilen Phase gesprochen. Würdest du das verallgemeinern?

Ich würde jetzt nicht insgesamt das „Post-agile-Zeitalter“ ausrufen. Wir haben immer Gleichzeitigkeitsphänomene. Für viele der Organisationen, die vor einiger Zeit Agilität eingeführt haben, beginnt nun die post-agile Phase, nicht nur, aber auch, weil sie sehen, dass es nicht das Wundermittel ist, mit dem alle Probleme gelöst sind. Es gibt derzeit allerdings auch viele agile Projekte in Verwaltungen zum Beispiel, die erfolgreich laufen und es gibt viele Unternehmen, die noch nie was mit Agilität zu tun gehabt haben – und wahrscheinlich wird sich das nicht ändern. Interessant ist doch: Die Probleme, die mit Hilfe der Agilität gelöst werden sollten, sind weiterhin sehr gegenwärtig. Zum Beispiel: Wie gelingt es einer Organisation, sich schnell anzupassen?

Egal, ob agiles oder post-agiles Zeitalter: Die Herausforderung für Unternehmen, sich schnell an neue Gegebenheiten anzupassen, bleibt bestehen?

Genau! Wandel- und Lernfähigkeit sind zeitlose Fertigkeiten, die jede Organisation braucht, um langfristig erfolgreich zu sein. Sicher wird es immer wieder Anbieter und Ansätze geben, die die perfekte Lösung versprechen. Sich hiervon nicht beeindrucken zu lassen, ist sicher auch ein Entwicklungsschritt.

Für viele Unternehmen kommt jetzt wahrscheinlich die Phase, in der vieles – was man vorher mit Agilität beantworten wollte – durch KI und Digitalisierung abgelöst wird. Auch hier gibt es ohne Zweifel wirksame und spannende Möglichkeiten. Aber sie werden auf eine gewachsene Organisation mit ihren Prämissen treffen.

Meiner Erfahrung nach ist es für einen gelingenden Veränderungsprozess entscheidend, sich immer wieder mit ein paar sehr grundlegenden Fragen zu beschäftigen. Dazu gehören Fragen nach der Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen zum Beispiel, oder wie die Wahrnehmung der Mitarbeitenden in die Organisationsstrukturen gebracht werden kann.

Organisationen waren schon immer und werden auch zukünftig geprägt sein von Paradoxien.

Das würde ich durchaus verallgemeinern. Sie müssen ständig Ziele und Aufgaben, die gleichzeitig existieren und widersprüchlich sind, in einen produktiven Ausgleich bringen: Stabilität und Veränderung, Innovation und Routine, Innen- und Außenorientierung müssen immer wieder in Einklang gebracht werden. Das ist nicht neu. Sich dieser Paradoxien bewusst zu sein, ist für den Erfolg von Veränderungsprozessen wichtiger als jede Methode und jede Mode.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

 

Autor

Torsten Groth
ist seit 2021 geschäftsführender Gesellschafter der Organisationsberatung Simon Weber Friends GmbH (swf). Er ist Referent und Trainer zu Anwendungsfragen der Systemtheorie in Management und Beratung sowie systemischer Berater mit den Schwerpunkten „New Organizing“ und Familienunternehmen. Torsten Groth ist zudem Herausgeber der Reihe „Management und Organisationsberatung“. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur systemischen Sicht auf Beratung, Organisation und Führung. Zuletzt ist von ihm (zusammen mit Timm Richter) 2023 im Carl-Auer-Verlag erschienen: „Wirksam werden mit Systemtheorie“.

Für viele Unternehmen wird es immer wichtiger, dass sie Teil von Ökosystemen werden. Diese bieten trotz einer komplexer werdenden Wirtschaftswelt die Chance auf zusätzliche Wachstumshebel und Innovationen – auch wenn die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten begrenzt sind. Bernhard Lingens beschreibt, auf welche Schritte es besonders ankommt, damit aus dem Buzzword ein Werkzeug wird, das echten Mehrwert stiftet.

Ökosysteme haben in den vergangenen Jahren einen wahren Hype durchlebt – mitunter gefolgt von umso stärkeren Enttäuschungen. Die Gründe liegen meist in den ersten Schritten. Ökosystem-Initiativen benötigen organisationale Vorarbeiten und die richtigen Prioritäten – dann können sie gelingen. Und das ist eine gute Botschaft. Denn im Kern sind Ökosysteme so relevant wie nie. Sie ermöglichen Innovation jenseits der Grenzen der eigenen Ressourcen und Fähigkeiten. Und schaffen damit zusätzliche Wachstumshebel in Zeiten, in denen Trends im Kontext der Digitalisierung zum Handeln zwingen, die internen Ressourcen jedoch oftmals knapp sind. Doch was sind nun die ersten Schritte auf dem Weg zum Ökosystem?

1. Den Grund für die Initiative kennen und die verschiedenen Ökosystem-Konzepte verstehen

Es klingt trivial. Aber gerade, weil Ökosysteme so ein Hype-Thema geworden sind, möchten Firmen oftmals Ökosysteme um des Ökosystems willen. Sobald dann die Probleme und Herausforderungen kommen, ist die Freude vorbei und die Initiativen werden enttäuscht beendet.

Es ist wie mit uns Menschen: Wollen wir jeden Morgen um 7 Uhr aufstehen und erst einmal bei jedem Wetter joggen gehen? Ein paar Tage lang machen wir das. Aber längerfristig und bei Starkregen nur dann, wenn wir wissen, wofür wir trainieren. Das „Trainingsziel“ bei Plattform-Ökosystemen (digitale Marktplätze, getrieben durch Netzwerkeffekte) ist, ganze Märkte abzubilden. Marktdominanz ist daher kein Nebeneffekt, sondern ein Kernziel. Und das erfordert langjährige Marketing- und Business-Development-Aktivitäten.

Innovations-Ökosysteme ermöglichen Innovation jenseits der Kernfähigkeiten des Unternehmens, erzeugen aber starke externe Abhängigkeiten und Koordinationsaufwendungen – und scheitern in der Mehrzahl der Fälle an der inhärenten Komplexität und Ungewissheit. Dieses Risiko gehen Firmen nur ein, wenn sie wissen, wofür: Welche Herausforderungen hat die Firma, die wir mit Ökosystemen lösen wollen? Welche Potenziale bestehen?

Im ersten Schritt müssen daher die Chancen und Risiken der verschiedenen Ökosystem-Konzepte sowie der Grund für ihre Anwendung klar verstanden werden.

2. Commitment schaffen – vor allem beim Top-Management

Der zweite Schritt ergibt sich aus dem ersten. Ökosystem-Initiativen sind langfristig und gehen mit starken Herausforderungen einher. Die Firma und vor allem ihr Top-Management müssen das wollen. Und das bedeutet in der Regel, Antworten auf nicht leichte Fragen wie die folgenden zu geben, die die Organisation früher oder später stellen wird:

  • Wieso müssen wir einen Change und eine Ausbildung im Vertrieb machen?
    Weil dieser die Kundenschnittstelle werden soll für die aus dem Innovations-Ökosystem entstehenden Produkte!
  • Wieso muss die Produktentwicklung eine agile Transformation durchmachen?
    Weil sie als Modullieferant mit externen Partnern schnell und effizient Produkte entwickeln muss!
  • Wieso müssen wir über Jahre so viel Geld in Marketing investieren?
    Weil wir den Netzwerkeffekt für das Plattform-Ökosystem in Gang bringen müssen.

Wenn das Top-Management all diese Fragen nicht mit Überzeugung beantworten und die nötigen Änderungen und Entscheidungen vorantreiben kann, wird die Initiative scheitern. Jeder will Ökosysteme – doch nur, wenn auch die Herausforderungen der Konzepte akzeptiert werden, ist es echtes Commitment.

3. Das Kundenproblem verstehen und das Wertversprechen definieren

Innovations-Ökosysteme sind ineffizient – wegen der Koordinationsaufwendungen und Abhängigkeiten. Daher muss die Kundschaft entweder mehr zahlen für das resultierende Produkt oder es ist so überlegen, dass es sich breit im Markt durchsetzt und somit über den Absatz die nötigen Erträge liefert.

Plattform-Ökosysteme bringen gute Renditen, wenn über den Netzwerkeffekt die Skalierung zur Marktdominanz erbracht wird.

In beiden Konzepten steht und fällt die Initiative daher mit einem starken Wertversprechen an die Kunden, bei Plattformen zusätzlich auch noch für die Anbieter.

Literaturtipp

Bernhard Lingens (2024): Business-Ökosysteme verstehen, aufbauen und managen: Der Praxisratgeber für Strategieentwicklung, Innovation und Transformation, Carl Hanser Verlag

 

Der Startpunkt liegt also bei den Kunden und ihren Problemen. Die richtige Frage lautet: Welches Kundenproblem möchte ich lösen und ist der aus der Lösung resultierende Business Case stark genug, um die inhärenten Herausforderungen der Ökosystem-Konzepte zu kompensieren? Erst wenn wir hierauf eine Antwort definiert und getestet haben, können wir uns dem nächsten Schritt widmen.

4. Rollen definieren und Strukturen schaffen

Auf Basis des Wertversprechens ergeben sich die nötigen Rollen für dessen Umsetzung. Wer ist die Kundenschnittstelle und bringt die Lösung an die Kunden? Wer liefert welche Module ins Ökosystem? Diese Fragen basieren jedoch nicht auf „Wünsch dir was“. Damit das Ökosystem funktionieren kann, müssen alle Spieler dieser Mannschaft auch für ihre Rollen geeignet sein:

  • Wer hat die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen?
  • Und sind die jeweiligen Abteilungen auch methodisch in der Lage sowie basierend auf ihrer Kultur und Identität willens, die zugedachten Rollen zu spielen?

Darüber hinaus gilt: Je weniger Rollen man selbst im Ökosystem übernimmt, desto weniger Investment und Risiko hat man. Auf der anderen Seite ergibt sich auch weniger Einfluss und ein kleineres Stück vom Kuchen – das ist eine strategische Abwägung.

5. Die Partner überzeugen und integrieren

Wie überzeugt man Partner, im Ökosystem mitzuwirken? Durch den Business Case und einen klaren Plan, wie man diesen umsetzen möchte. Und genau dafür braucht es das starke Wertversprechen als Startpunkt. Danach hängt das Vorgehen aber vom Konzept ab: Im Innovations-Ökosystem integriert der Orchestrator erst einmal nur den wichtigsten Partner und optimiert den angedachten Bauplan für das Ökosystem auf dessen Wünsche hin, falls nötig.

Beim Plattform-Ökosystem werden so viele Partner wie möglich so schnell wie möglich integriert – schließlich geht es um rasche Skalierung zur Marktdominanz und das Ankurbeln des Netzwerkeffekts. Hier sind einheitliche Regeln und klare Schnittstellen der Schlüssel, was auch eine Anforderung an die IT ist.

 

 

Autor

Prof. Dr. Bernhard Lingens
ist Experte für Innovationsmanagement und Ökosysteme. Er leitet den Bereich für Innovation am IMA der Universität Luzern, wo er auch Mitglied des Direktoriums ist. Zudem ist er Adjunct Associate Professor an der Aalborg Business School sowie Research Affiliate an der Universität St. Gallen. Er arbeitet außerdem als Senior Manager Innovation and Ecosystem Management bei Detecon Schweiz.
»Bernhard bei LinkedIn

Fünf Fragen an Sirka Laudon, Vorständin People Experience, AXA

Bislang hat sich im Change Management noch kein Konzept als ultimativ richtig erwiesen. Veränderungen in Organisationen verlaufen höchst unterschiedlich. Deshalb sind die Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke der Verantwortlichen auch so verschieden. Uns interessiert die persönliche Perspektive von erfolgreichen Managern und Managerinnen. Diesmal stellt sich Sirka Laudon unseren fünf Satzeröffnungen.

Meine bislang größte/wichtigste Business Transformation …

… unter anderem eine, die noch gar nicht so lange zurückliegt: Der Aufbau von 14 „Tribes“ und die Implementierung einer skalierten agilen Organisationsstruktur ist eines der größten Restrukturierungsprojekte der AXA und hat den Arbeitsalltag von 1500 Mitarbeitenden organisatorisch und prozessual grundlegend verändert. Neben der Umsetzung geteilter Führung und der Einführung agiler Funktionen haben wir es auch gewagt, unsere Konzernplanung und Steuerungsprozesse anzupassen. Besonders herausfordernd waren die Aktivitäten der „alten“ und „neuen Welt“ für eine gewisse Zeit nebeneinander aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus hat die neue Organisationsstruktur einen direkten oder indirekten Einfluss auf diverse andere Unternehmensbereiche gehabt: von Steuerungsprozessen und Budgetplanung bis hin zu HR-Prozessen, die sich an neue Geschäftsprozesse und Strukturen anpassen mussten.

Mein wichtigstes Learning: Es braucht einen grundlegenden Wandel!

Ein Post-it an der Wand macht noch keine agile Kultur!

Und ein paar agile Oasen der Selbstverwirklichung machen noch keine agile Organisation. Kultur und Mindset folgen veränderten Strukturen und Prozessen. Nicht andersherum.

Veränderungen von Unternehmen sind aus meiner Erfahrung im Wesentlichen geprägt durch …

… die Change-Readiness der Organisation und wichtige Umfeldfaktoren. Ein Transformationsziel kann noch so strategisch richtig sein – es ist jedoch nicht losgelöst vom Transformationsvermögen einer Organisation zu betrachten. Dazu zählen Faktoren innerhalb der Organisation, wie zum Beispiel die Führungsstärke des Managements, Bereitstellung von Ressourcen, abgestimmte Zielbilder und passende Skills sowie externe Faktoren, wie das Alignment wichtiger Stakeholder oder verschiedene Marktbedingungen. Mittlerweile durchlaufen alle transformatorischen Großvorhaben der AXA einen Readiness-Check, der systematisch und objektiv Schwachstellen vor Projektstart aufzeigt.

Die drei wichtigsten Erfolgsfaktoren von Change Management sind für mich …

… die Persönlichkeit des Change Leaders, die Attraktivität und Klarheit des Zielzustands und die Transformationsenergie innerhalb der Organisation. Vieles andere, was ebenso wichtig ist, ist „Handwerk“.

Nicht alles gelingt. Was ich bei Veränderungen in meiner Verantwortung künftig anders machen werde oder was ich durch Lernen aus früheren Fehlern heute bereits anders mache, ist …

… der Veränderungskraft der richtigen „Change Story“ mit rationalem Begründungszusammenhang eher geringeren Wert einzuräumen. Viel wichtiger ist: die Veränderungskraft eines attraktiven Zielzustands, der mitreißende emotionale Veränderungsenergie entfaltet, hoch bewerten.

Mir begegnet häufig der Glaube, dass Menschen sich rational verhalten.

Es wird selbstverständlich angenommen, dass faktisch richtige Unternehmensziele bei jedem sofort die Veränderungsbereitschaft entfachen. Hier fehlt allerdings die Übersetzung in attraktive und persönliche Ziele für den Einzelnen.

Mein persönlicher Tipp an eine Führungskraft, die Verantwortung für ein Veränderungsprojekt übernimmt, lautet:

… nutze die Veränderungsenergie, die in jedem Menschen schlummert! Lass das Veränderungsprojekt nicht zu einem mühseligen und kräftezehrenden Weg werden, sondern bringe mit „Playfulness“ und mitreißenden Impulsen spielerische Energie in den Prozess! Lass es mehr Tanz als Tabellenschlacht werden! Das Selbstvertrauen und die Bereitschaft der Menschen, diesen Weg erfolgreich zu meistern, hängen allein davon ab.

 

 

Autorin

Sirka Laudon
ist Vorständin People Experience und Arbeitsdirektorin der AXA Konzern AG. Vor ihrem Wechsel zu dem Versicherungsunternehmen war sie von 2017 bis 2019 Geschäftsführerin Personal bei DB Vertrieb. Weitere berufliche Stationen waren Axel Springer sowie die Otto GmbH & Co. Sirka Laudon gehört laut dem Personalmagazin zu den 40 führenden HR-Köpfen in Deutschland.
»Sirka bei LinkedIn

Ihnen hat das Format „5 Fragen an…“ gefallen? Hier finden Sie einen weiteren Beitrag dazu: „5 Fragen an Alicia Lindner, Börlind“.

Christina Aumann und Kerstin Molinari arbeiten schon seit vielen Jahren an großen und kleinen Veränderungsvorhaben – zuletzt gemeinsam als „Head of Engagement & Transformation“. Die Bandbreite der Themen, an denen sie mitwirken, ist enorm: von großen Leitbildprozessen über die Veränderung von Arbeitssicherheitskultur bis zur Einführung von mobilem Arbeiten in einem Produktionsunternehmen. Als probate Kollaborationsmethode „challengen“ sie gerne gelegentlich ihre Arbeitsansätze, indem sie konträre Positionen einnehmen – so wie in diesem Gespräch.

Was erzeugt Veränderungswillen: Visionen oder Pragmatismus?

Christina Aumann: Für mich ist klar, Pragmatismus geht vor. Anstatt große Visionen zu verkünden, sollten wir klein und realistisch anfangen. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir den Fokus auf konkrete Schritte legen, die tatsächlich im Alltag umsetzbar sind. Wenn die Veränderung oder das gewünschte Verhalten nicht anschlussfähig sind, bringen Visionen nichts.

Kerstin Molinari: Aber eine klare Vision ist der Anfang und der Treiber jeder Veränderung. Ohne ein Ziel, das alle begeistert, machen kleine Schritte keinen Sinn – sie verlieren sich im Alltagsgeschäft. Nur zu sagen „Wir brauchen Veränderung“ reicht nicht aus. Menschen brauchen einen Sinn. Jahrelang haben wir im Unternehmen ganz allgemein von Veränderungsdruck gesprochen, aber erst als dieser konkret mit der grünen Transformation des Unternehmens ausformuliert wurde, haben die Menschen gewusst, wo vorn ist.

„Menschen wollen wissen, wofür sie sich einsetzen.“

Sie wollen wissen, was das verbindende Ziel ist.

Das schafft Motivation für Veränderung!

Christina Aumann: Mal ehrlich, meistens liegt es doch gar nicht daran, dass Mitarbeitende nicht motiviert sind, einen guten Job zu machen. Bloß gibt es Verhaltensweisen, die für sie sehr funktional sind und andere eben nicht. Es haben sich gangbare Wege eingeschlichen, die ihnen die Arbeit leichter machen, die dem Chef gefallen oder mit denen man die Zielvereinbarung sicher erreicht. Visionen sind gut, um sich dahinter zu vereinen.

„Besser ist es, wenn man zunächst mal den Dingen auf den Grund geht.“

Und nachfragt, warum einiges so läuft, wie es läuft. Erinnere dich, wie es bei unserer Arbeit an der Arbeitssicherheitskultur war. Es passierten zu viele Unfälle und das konnte auf keinen Fall so weitergehen. Technisch hatte man schon alles getan, es musste also am Verhalten der Menschen liegen. Sie waren zum Teil zu unvorsichtig, was im schlimmsten Fall auch zu Verletzungen führte.

Kerstin Molinari: Und deshalb war die Vision des „unfallfreien Betriebs“ dann so wichtig.

Christina Aumann: Die Vision des unfallfreien Betriebs klang gut. Aber ihr Nutzen war erst mal begrenzt, weil sie nicht so ohne Weiteres umsetzbar war. Also mussten wir zunächst einen Umweg gehen und genauer nachfragen, warum dieses Ziel nicht so einfach erreicht werden konnte. Nach vielen Gesprächen mit Führungskräften und vor allem Mitarbeitenden, die auf Schicht arbeiten, haben wir dann
festgestellt, dass es nicht an gutem Willen mangelte, sondern oft andere Gründe dahintersteckten. Zum Beispiel, dass das ausgerufene Ziel „Safety first“ im Alltag mit anderen Zielen konkurrierte oder sogar im Konflikt stand. Oder Ziele ausgerufen wurden, die am eigentlichen Ziel vorbeigingen. Letztlich haben Mitarbeitende sich nie gegen ihre Sicherheit entschieden, aber andere Ziele priorisiert.

Kerstin Molinari: Dennoch brauchte es die Vision bzw. das klare Ziel. Daran konnten wir dann die vorherrschenden Konflikte aufdecken und sie im öffentlichen Diskurs besprechbar machen, sodass sie im Einzelfall aufgelöst werden konnten.

Was prägt das Verhalten – das Mindset oder die Verhältnisse?

Christina Aumann: Ständig reden wir über das richtige Mindset, aber das lenkt doch nur vom eigentlichen Problem ab. Anstatt auf innere Einstellungen zu setzen, sollten wir endlich die Strukturen verändern, die den Leuten das Leben schwer machen. Ein Mindset lässt sich nicht verordnen. Entscheiderinnen und Entscheider meinen oftmals, dass es bloß am richtigen Mindset mangele: „Die Führungskräfte, die Mitarbeitenden, der Standort – sie können es einfach nicht“, heißt es dann.

Manchmal fehlte es zwar an der richtigen Kompetenz. Es wurden beispielsweise oftmals über viele Jahre Menschen zu Führungskräften gemacht, die die besten Expertinnen und Experten sind und weniger die besten Führungskräfte.

Aber letztlich sind auch die bemüht, Teams zu führen. Ich bin überzeugt:

„Mit dem Ruf nach einer anderen Einstellung machen wir es uns zu einfach.“

Wir müssen auf die Strukturen schauen, zum Beispiel, was Führungskräfte alles auf dem Tisch haben: bürokratische Vorgänge, von Bestellungen bis hin zu Gefährdungsbeurteilungen, Personalbeurteilungen und Reportings – für das eigentliche Gespräch mit ihren Mitarbeitenden bleibt dann wenig Zeit. Die Frage ist also, welche Strukturen, welche Verhältnisse können geschaffen werden, damit Führungskräfte hier die gewünschten Prioritäten setzen können?

Kerstin Molinari: Das Mindset ist fundamental, weil es der Start jeder Veränderung ist. Strukturen sind wichtig, aber ohne eine innere Haltung, die auf Offenheit für Wandel basiert, hilft die beste Struktur wenig. Führungskräfte sind Vorbilder. Wenn sie das richtige Mindset und gemeinsame Werte vorleben, kann die gesamte Organisation eine neue Einstellung entwickeln.

Christina Aumann: Das reicht mir noch nicht, dann muss man zum Beispiel auch ehrlich darüber reden, wie die Führungskräfte an anderer Stelle entlastet werden können. Denn, wenn ich von Führungskräften verlange, dass sie gute Manager und Managerinnen sind und gleichzeitig empathische, verständnisvolle und Orientierung stiftende Leader, dann fordere ich ihnen ganz schön viel ab. Es braucht strukturelle Veränderungen, die das gewünschte Verhalten ermöglichen.

Kerstin Molinari: Und gleichzeitig kann nicht alles geregelt werden, viele Dinge bleiben offen, sie können so oder auch anders entschieden werden.

„Es ist hilfreich, wenn es authentische Vorbilder gibt, die die richtige Einstellung vorleben.“

Daran scheitert es oft. Wenn ich an die Einführung unseres Konzernleitbildes vor vielen Jahren denke: Darauf haben die Menschen nur mit Zynismus reagiert, weil es im Top-Management Personen gab, die völlig konträr gehandelt haben. Der Fisch stinkt vom Kopf, du weißt schon.

Christina Aumann: Solche Vorbilder machen es einfacher, aber sie reichen nicht aus. Befähigung ist ein weiterer Aspekt, der wirksam ist. Wenn es jahrelang „die Kultur“ war, das zu tun, was dir von oben gesagt wird, kannst du nicht von heute auf morgen eigenverantwortlich sein. Und ebenso musst du als Führungskraft die Möglichkeit haben, neue Methoden zu lernen. Noch besser ist es, dein eigenes Verhalten zum Beispiel mit einem Coach reflektieren zu können. So hast du die Chance, das bisher Gelernte und angewandte Verhalten zu hinterfragen und Neues zu probieren.

Veränderungen verankern: Klare Regeln oder mehr Freiraum?

Christina Aumann: Ich sage: klare Regeln. Die machen das Leben einfacher, nehmen die Ungewissheit und verhindern lange Diskussionen über individuelle Entscheidungen. Wenn alle wissen, was gilt, gibt es weniger Widersprüche.

Kerstin Molinari: Ich sehe das anders. Freiraum lässt gute Lösungen zu und Widerspruch ist trotzdem da, vielleicht nicht immer sichtbar, aber auf jeden Fall im Verborgenen. Außerdem würde ich sagen, dass es Freiräume braucht, um Innovationen zu erzeugen. So kann Neues von unten entstehen. Ohne Spielraum für eigene Entscheidungen bleibt alles beim Alten.

Christina Aumann: Das ist doch genau der Punkt, an dem wir immer wieder auf Widerstand stoßen. In großen Organisationen ist man es nicht gewöhnt, individuelle Entscheidungen zu treffen. Wenn es üblicherweise betriebliche oder gar tarifliche Regelungen gibt, dann ist es schwer, damit umzugehen, wenn plötzlich Regelungslücken entstehen. So wie bei der Einführung von mobilem Arbeiten. Vor der Pandemie gab es überwiegend Anwesenheit, mobiles Arbeiten war die absolute Ausnahme. Während der Pandemie war das Gegenteil der Fall und für die Zeit nach der Pandemie brauchten wir eine neue Regelung. Ich erinnere mich, dass als Übergang die Maxime ausgerufen wurde: 50 Prozent mobil, 50 Prozent im Office. Ich erhielt Nachfragen von Führungskräften, ob sie die Mitarbeitenden nun mittwochmittags nach Hause schicken sollten.

Kerstin Molinari: Und dennoch lassen sich im Verborgenen sicher hier und da Absprachen finden, die wir nicht in einer Betriebsvereinbarung geregelt haben. Sie ermöglichen Flexibilität im ansonsten starren System. Und deshalb mussten wir als Unternehmen einen Weg finden, nicht die eine Arbeitszeit- bzw. Arbeitsortregelung für alle zu vereinbaren, sondern Spielraum zu geben.

Vor dem Veränderungsprozess haben wir deshalb alle Zielgruppen befragt. Nach Umfragen und Workshops mit Mitarbeitenden und Führungskräften war klar, dass man sich mehr Selbstbestimmung bei der Wahl des Arbeitsortes wünscht.

Und so haben wir die formale betriebliche Regel sehr offengehalten und den einzelnen Teams die Möglichkeit gegeben, diese für sich auszugestalten. Wir haben sechs Pilotteams aus unterschiedlichen Bereichen vorausgeschickt, die Muster-Teamregeln gefunden haben. Anschließend waren alle Teams im Unternehmen, die grundsätzlich mobil arbeiten können, aufgerufen, sich Regeln zu geben – so
musste nicht jeder Einzelfall neu verhandelt werden. Und dennoch kann beispielsweise die IT in größerem Umfang mobil arbeiten als zum Beispiel die Personalabteilung.

Christina Aumann: Diesen Veränderungsprozess haben wir wirklich vorbildlich geplant: Einbindung aller Stakeholder, eine Mischung aus formalen Strukturen und Freiraum für individuelle Regelungen. Und doch muss man festhalten, an alles haben wir nicht gedacht. Die Ungleichheiten, die wir sichtbar gemacht haben, weil es Bereiche gibt, die viel mobil arbeiten und andere, die es nicht können, haben neue Probleme hervorgerufen.

Am Ende können wir festhalten: Die perfekte Organisation und den perfekten Change-Prozess gibt es nicht. Wir verändern Dinge und handeln uns gleichzeitig neue Probleme ein. Es braucht Demut vor einem Veränderungsprozess, denn Kultur lässt sich nicht anordnen. Es ist gut zu wissen, wohin man will. Aber ganz wesentlich ist es, genau hinzusehen und nachzufragen, vorzudenken und manchmal auch zu revidieren. Das kostet viel mehr Zeit, ist aber in jedem Fall der ehrliche Weg, Veränderungen zu gestalten.

 

 

Autorinnen

Christina Aumann und Kerstin Molinari
leiten gemeinsam den Bereich „Engagement & Transformation“ bei thyssenkrupp Steel. Mit ihren drei Teams sind sie verantwortlich für Internal Communications, Cultural Transformation sowie Corporate Citizenship. Sie haben bereits diverse Veränderungsprojekte an der Schnittstelle zwischen HR und Kommunikation begleitet.
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