Resilienz: Dialog als Grundlage für Gesundheit
Die Frage nach psychischer Widerstandskraft ist keine Frage nach einem sporadischen Handeln oder dem Anwenden von Techniken. Es ist die Frage nach einer bewussten Haltung sich selbst und anderen wie auch dem Leben gegenüber.
Anzuerkennen, dass ich als erwachsener Mensch mein Leben und damit meine Gesundheit selbst in der Hand habe und verantworte, ist ein entscheidender Grundstein der dialogischen Haltung. Sich nicht als Opfer von Personen oder Lebenssituationen zu erleben, sondern die Fähigkeit zu besitzen, aus jeder Situation das Bestmögliche zu machen und in der Krise die Chance auf Wachstum zu sehen, ist Ausdruck von Resilienz und ist durch den Dialog möglich zu erreichen. Am Ende ist das „Was“ in unserem Leben wesentlich weniger entscheidend als das „Wie“: wie wir die Dinge angehen.
Dialog beschreibt Gleichgewicht und Gleichberechtigung: Ich selbst komme genauso vor wie der andere und das jeweilige Wir. Leben und Stärke entstehen durch Begegnung, die zu Wachstum führt. Das setzt voraus, dass ich mich in meinen Beziehungen nicht zum Maßstab nehme, sondern eine resiliente, dialogische Grundhaltung einnehme. Dies bedeutet anzunehmen, was ist, das heißt, Realitäten anzuerkennen und in der Begegnung mit Personen, dem System, der Situation und Tätigkeiten in den gleichberechtigten Austausch zu gehen – immer mit dem Ziel des gemeinsamen Wachstums.
Gesunde Systeme setzen gesunde Individuen voraus
Erschöpfung – ob systemisch oder individuell – entsteht durch Kampf.
Der Dialog sucht in der Verschiedenheit die Gemeinsamkeit und auf dieser Grundlage die Weiterentwicklung. Das bedeutet, dass alle
Beteiligten anerkennen, dass ich in der jeweiligen Beziehung den Part von einem Drittel einnehme. Systeme können nur dann gesund bleiben, wenn sie die Einzelnen mit ihren wesentlichen Bedürfnissen berücksichtigen.
Es setzt voraus, dass ich um meine Integrität weiß und dieser treu bin. Außerdem setzt es voraus, dass ich dazu bereit bin, gerade in den Situationen, die ich nicht beeinflussen kann, in die Akzeptanz zu gehen und zu schauen, wie ich mich darin weiterentwickeln kann, anstatt zu resignieren.
Ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben
Psychische Widerstandskraft entsteht nicht durch Widerstand, sondern durch die Bereitschaft, im Möglichen das Bestmögliche zu suchen. Das bedeutet, dass ich grundsätzlich anerkenne, dass ich nicht alles im Leben bestimmen kann. Ein zentraler Aspekt für ein Burn-out ist, dass Betroffene gegen Lebenssituationen – egal ob Scheitern, Verlust, Trennung oder auch Krankheit – vergebliche Kämpfe führen und sich darin erschöpfen.
Im Dialog zu bleiben, sorgt für ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben, auf das alle Beteiligten bewusst achten. Eine regelmäßige Reflexion, ob ich „auf meine Kosten komme“, verhindert, dass ich mich im einseitigen Geben verausgabe, und sichert die psychische Widerstandskraft.
Sechs Werte als Grundlage des Miteinanders
Einer der zentralen Aspekte für seelische Gesundheit und psychische Stärke ist eine gesunde Beziehungsatmosphäre. Ein regelmäßiges Innehalten und Reflektieren dessen, was ich innerhalb meiner Beziehungen aufnehme – aber auch abgebe –, ist eine gute Möglichkeit, die eigene Resilienz, aber auch die des Gegenübers zu sichern. Es gibt sechs zentrale Werte, die essenziell für menschliches Miteinander sind:
- Interesse
- Offenheit
- Empathie
- Augenhöhe, Respekt
- Wertschätzung
- Liebe
Krankheit und der Verlust von psychischer Widerstandskraft entstehen dort, wo diese Werte sukzessive verlorengehen oder fehlen. Dies ist ein schleichender Prozess. Viel zu häufig wird eine vergiftete Atmosphäre als normal empfunden. Sie wird erst durch mentale, emotionale oder auch körperliche Krankheitssymptome deutlich.
Beziehungsfähigkeit wird maßgeblich in den ersten Jahren angelegt – so, wie das Kind Beziehung erfährt, so lernt es, Beziehungen zu sich selbst und zu seinem Umfeld zu führen. Die Beziehungsatmosphäre des Elternhauses bestimmt maßgeblich die Resilienzentwicklung des Kindes. Erfährt dieses von Beginn an Interesse, Offenheit, Empathie, Augenhöhe und Respekt von seinen Eltern und damit verbunden die bedingungslose Annahme seiner Person, dann kann es auf dieser Grundlage eine gesunde Beziehung zu sich selbst entwickeln und Beziehungen auf Augenhöhe leben.
Die Bereitschaft für die Gegenwart
Je mehr die dialogischen Werte in den ersten Jahren fehlen, Annahme und Liebe an Bedingung geknüpft oder aber auch frühe Verlusterfahrungen gemacht werden, umso mehr werden ungesunde Beziehungsmuster entwickelt, die die Betroffenen im Erwachsenenalter in ihrer psychischen Widerstandskraft schwächen. Das Bewusstsein in Bezug auf die eigene Kindheit und auf die Verarbeitung kindlicher Wunden ist ein zentraler Punkt für resiliente Beziehungsgestaltung.
So erschöpfen sich Betroffene im späteren Leben deswegen, weil sie auf dem Boden des Wiedergutmachungsanspruchs früher nicht erfahrene Liebe und Anerkennung später vergeblich – zum Beispiel durch Leistung, Karriere oder Selbstaufopferung in privaten Beziehungen – wiedergutzumachen versuchen. Resilienz entsteht in der Bereitschaft, in der Gegenwart zu leben und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Dialog ist mehr als verbale Kommunikation
Seelische Gesundheit ist die Entscheidung, die jeden Tag neu zu treffen ist. Sowohl von den Beziehungspartnern als auch von den jeweiligen Systemen. Dass ich als erwachsener Mensch selbst meine Gesundheit in der Hand habe – sowohl im Privaten als auch in beruflichen Hierarchien –, setzt ein eigenverantwortliches Handeln voraus, sodass eigene und fremde Grenzen respektiert und auf Augenhöhe gelebt werden.
Die Bereitschaft, sich in den anderen einzufühlen – gerade dort, wo das Gegenüber zerstörerisch oder verletzend wirkt – und im Mitgefühl die befriedende Begrenzung zu suchen – anstatt durch eigene Destruktivität die Gewalt zu potenzieren –, ist ebenso entscheidend wie eine grundsätzliche Bereitschaft, den Wert und die Würde des Menschen zu schätzen. Das Bewusstsein, dass ich durch mein Handeln auf meine Gesundheit wie auf die Gesundheit des Gegenübers und des Systems einwirke, ist ein entscheidender Ansatz des Dialogs, der weitaus mehr als verbale Kommunikation ist.
Die Verantwortung liegt bei jedem selbst
Der dialogische Ansatz beinhaltet eine zentrale Aussage: Wir gemeinsam sind immer mehr als Ich und Du allein. Ich kann also nicht nur meine Resilienz beeinflussen, indem ich mich richtig verhalte, sondern wirke mit meiner Haltung ebenfalls auf die Gesundheit des anderen wie auf die des Systems ein. Wenn wir erkennen, dass Gesundheit nicht allein in der Hand des Gesundheitssystems liegt, sondern entscheidend mit werteorientiertem Handeln verbunden ist und in der alltäglichen Verantwortung eines jeden Einzelnen im täglichen Miteinander liegt, haben wir eine realistische Möglichkeit, die psychischen Erkrankungen und Erschöpfung des Einzelnen wie unserer Systeme zu reduzieren und zurück zu einem gesunden Boden zu finden.
Autorin
Dr. med. Mirriam Prieß ist Ärztin, Unternehmensberaterin und Autorin, die auf die Behandlungsschwerpunkte bzw. Themen Burn-out, Resilienz und Persönlichkeitsentwicklung spezialisiert ist. Sie war acht Jahre lang in leitender Funktion in einer psychosomatischen Fachklinik für die Behandlungsschwerpunkte Ängste, Depressionen und Burn-out verantwortlich, bevor sie sich der beratenden Tätigkeit in der Wirtschaft zuwandte. Literaturtipp: Die Kraft des Dialogs. Gelingende Beziehungen mit dem Dialogprinzip – privat, beruflich, zu mir selbst (Dr. Mirriam Priess, 2021, Südwest Verlag).
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Eine entscheidende Rolle spielt die Kommunikation in Zeiten des Wandels, aber auch in längeren Beziehungen. Im Beitrag „Kommunikation in Zeiten des Wandels“ wird die Bedeutung der Kommunikation thematisiert.