Mit dem sogenannten Full Flex Office können Mitarbeitende bei Vodafone seit dem Herbst des vergangenen Jahres selbst entscheiden, wo und wie sie arbeiten. Das hybride Arbeitsmodell soll maximale Flexibilität ermöglichen. Im Interview sprechen Felicitas von Kyaw, Geschäftsführerin Personal, und Carolin Rudy, Head of Culture and Development, darüber, warum sie auf Selbstbestimmung setzen und wie sie dafür sorgen, dass in Zukunft das Wir-Gefühl nicht auf der Strecke bleibt.

Frau von Kyaw, Sie sind seit Anfang des Jahres bei Vodafone. Was ist Ihr primärer Auftrag als Geschäftsführerin Personal?

Felicitas von Kyaw: Die Agenda entsteht im Wesentlichen durch den Austausch mit den Stakeholdern aus dem Business. Vodafone ist, so wie viele andere Unternehmen auch, auf einer Veränderungsreise.

Wir befinden uns in der Transformation zu einer „Tech Comms Company“. Und es ist die Aufgabe unseres HR-Teams, diese weiter mitzugestalten.

Anfang des Jahres habe ich Interviews mit dem Business geführt. HR wird bei Vodafone als Partner auf Augenhöhe gesehen. Wir haben ein klares und starkes Mandat, Veränderungen voranzutreiben. Dabei geht es allerdings nicht nur um Organisationsentwicklung.

Wir sind ein People Business. Deshalb ist eine ebenso wichtige Aufgabe, die Menschen durch den vielfältigen Wandel und in den verschiedenen Veränderungs- Kontexten zu begleiten – und sie entsprechend „fit zu machen“ für diese Veränderungen. Wir werden sicherlich einen Schwerpunkt auf das Thema „Fähigkeiten und Kompetenzen“ legen. Das hat bereits vor meinem Start bei Vodafone begonnen. Es gibt zum Beispiel schon tolle Angebote wie den „Spirit Day“, bei dem alle Mitarbeitenden einen Tag ausschließlich für ihre persönliche Weiterbildung nutzen können.

Frau Rudy, bei Vodafone gilt seit Oktober 2021 ein hybrides Arbeitsmodell und das sogenannte Full Flex Office. Das Konzept war sehr präsent in den Medien. Was ist die Philosophie hinter dem Full Flex Office?

Carolin Rudy: Die Philosophie hinter dem Flex Office ist einfach: Wir haben das Vertrauen in die Mitarbeitenden, dass sie selbstständig gut entscheiden können, wo sie arbeiten. Wir wollten bewusst weggehen von vorgegebenen Prozentzahlen. Wir waren mit dem Thema vielleicht auch deshalb sehr präsent in den Medien, weil wir manch anderem Unternehmen einen Schritt voraus sind. Bei Vodafone
sind wir nämlich seit neun Jahren an das Homeoffice und das virtuelle Arbeiten gewöhnt und haben bereits früher bis zu 50 Prozent Homeoffice. Deshalb fiel uns die Entscheidung relativ leicht, nun den Schritt weiterzugehen und ganz auf Prozente zu verzichten.

Auch auf komplizierte Prozesse haben wir bewusst verzichtet und gesagt: Uns geht es um die Selbstbestimmtheit. Die Corona-Zeit hat unser Vorhaben beflügelt, weil wir zum einen gesehen haben, dass das virtuelle und vertrauensbasierte Arbeiten gut funktioniert. Zum anderen gab es von den Mitarbeitenden das eindeutige Feedback, nicht zum alten Modell zurückkehren zu wollen, sondern die Flexibilität und Freiheit im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit noch zu steigern.

Was würden Sie sagen, sind die Kernelemente des Full Flex Office? Ist es vor allem ein Arbeitszeit- und Arbeitsortmodell?

Carolin Rudy: Nein, es ist deutlich mehr. Es ist ein umfassendes Konzept. Die Grundaussage ist: Jeder arbeitet da, wo er oder sie das möchte. Es muss nichts beantragt oder vertraglich geregelt werden. Eine Mitarbeiterin kann also zum Beispiel sagen, dass sie in diesem Monat 90 Prozent von zu Hause arbeitet. Dann kommt sie drei Tage ins Büro und ist danach zwei Wochen nur im Homeoffice.

Es gibt aber auch genauso Kolleginnen und Kollegen, die möchten nur im Büro arbeiten, weil zu Hause die Bedingungen nicht gut passen fürs Homeoffice.

Das heißt, insgesamt gibt es eine höchstmögliche Flexibilität innerhalb eines Rahmens, den wir gesetzt haben. Wir haben uns gefragt, was die Mitarbeitenden im Homeoffice brauchen, um gut arbeiten zu können. Unserer Ansicht nach gehört dazu unbedingt eine ergonomische Ausstattung des Homeoffices, die wir deshalb zur Verfügung stellen. Hier bieten wir ein umfangreiches Paket: Mitarbeitende können einen großen Bildschirm, einen ergonomischen Stuhl und eine ergonomische Maus beantragen. All dies kommt dann bequem per Lieferdienst nach Hause. Ein weiterer Benefit für die Beschäftigten ist auch die Möglichkeit, eine Gutschrift auf den Internet-Anschluss im Homeoffice zu erhalten.

Ebenso bieten wir einen umfangreichen Unfall-Versicherungsschutz für die Mitarbeitenden im Homeoffice. Solche Benefits sind für das Employer Branding nach innen und außen enorm wichtig.

Nicht zuletzt gibt es die Möglichkeit, bis zu 20 Tage pro Jahr im EU-Ausland zu arbeiten.

Damit kann beispielsweise der Spanien-Urlaub um eine weitere Woche verlängert werden, in der dann vom Urlaubsland aus gearbeitet wird. Es ist ein weiterer Beitrag zu mehr Flexibilität. Diese Regelung ist sehr gut angenommen worden – und sie hat auf positive Art hohe Wellen bei uns geschlagen, weil es etwas wirklich Neues war. So etwas muss natürlich sehr gut geplant und steuerrechtlich geprüft werden. Sie sehen, es ist am Ende durchaus ein komplexes Projekt, aber vor allem ein attraktives Gesamtpaket geworden.

Felicitas von Kyaw: Diese umfangreichen Angebote zeigen, dass wir unsere Mitarbeitenden bestmöglich unterstützen wollen. Dazu zählt noch ein weiterer Aspekt: Nämlich, dass sie die für die virtuelle Arbeitswelt relevanten Fähigkeiten weiter ausbauen können. Das können Schulungen der Führungskräfte zum virtuellen Führen sein oder die Förderung der Zusammenarbeit im Team in der digitalen bzw. hybriden
Arbeitswelt. In dieser ist mehr denn je eine gemeinsame Vertrauensbasis notwendig. Und das bedeutet dann auch einen weiteren Schritt in Richtung Vertrauenskultur in der gesamten Organisation.

Frau Rudy, Sie sagen, jeder Mitarbeitende kann selbst entscheiden, wo er oder sie arbeiten möchte. Ist der Mitarbeitende aber auch aufgefordert, seine Entscheidung hinsichtlich des Arbeitsortes transparent zu machen bzw. anzukündigen, wie er oder sie in der kommenden Woche oder im nächsten Monat arbeiten möchte?

Carolin Rudy: Nein. Es muss nicht angekündigt oder irgendwo eingetragen werden. Aber es gibt die Empfehlung, dass der Mitarbeitende mit der Führungskraft darüber spricht, was er oder sie in Bezug auf den Arbeitsort plant.

Beispielsweise habe ich mit den Mitgliedern meines Teams darüber geredet, welches Modell ihnen persönlich vorschwebt. Der eine möchte eher einmal pro Woche ins Büro kommen, andere häufiger, weil sie sich vielleicht zu Hause einsam fühlen. All dies wird vertraglich nicht festgehalten und muss nicht angekündigt werden. Das Einzige, was formell beantragt und im System erfasst werden muss, ist das Arbeiten im EU-Ausland.

Hat die Führungskraft kein Vetorecht, wenn sie zum Beispiel der Meinung ist, dass das gewählte Arbeitsmodell den Teamerfolg gefährdet?

Carolin Rudy: Wir haben durchaus klar kommuniziert, dass Vodafone keine 100-prozentige Homeoffice-Company sein will. Das bedeutet,
dass es immer Gelegenheiten im Team oder in einem Bereich geben wird, bei denen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort sein sollten. Ich denke beispielsweise an ein Bereichs-All-Hands-Event, ein Strategie-Meeting oder ein Teamentwicklungs- Workshop. Dann hat die Führungskraft die Möglichkeit zu sagen: „Ich hätte gerne an diesem Tag alle Teammitglieder vor Ort.“ Wir haben mit den Betriebsräten geregelt, dass das mit ausreichend zeitlichem Vorlauf – im besten Falle zwei Wochen – angekündigt wird und nicht von heute auf morgen passiert.

Und wenn unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen?

Carolin Rudy: Wir gehen davon aus, dass das jeweilige Verhältnis von Führungskraft und Mitarbeitendem so gut ist, dass man alles besprechen und lösen kann. Es gibt grundsätzlich kein generelles Vetorecht einer Führungskraft, was das Full-Flex-Office-Prinzip an sich angeht. Wir setzen hier auf den Dialog.

Das eigentliche hybride Arbeiten im Sinne von verteilten Teams, deren Mitglieder sowohl vor Ort im Büro als auch mobil arbeiten, verläuft nach Ansicht vieler Führungskräfte in anderen Unternehmen oft unbefriedigend. Ist die Gestaltung einer effektiven hybriden Zusammenarbeit auch bei Vodafone ein Thema?

Carolin Rudy: Ja. In der Pandemie-Zeit war es noch relativ einfach, da gab es in der Regel eine demokratische Verteilung in Meetings, weil sich so gut wie alle virtuell eingewählt haben. Zukünftig wird aber sicherlich ein hybrides Arbeitsmodell stärker gelebt. Die Teams zu befähigen, ein solches Modell effektiv und fair zu gestalten, ist eine wichtige Aufgabe. Wenn beispielsweise fünf Leute wegen eines Meetings in einem Raum sitzen und drei wählen sich von zu Hause ein, dann sollte es in dem Raum keine Gespräche geben, die die drei virtuellen Teilnehmenden nicht mitbekommen. Auf so was muss geachtet werden. Wir haben zudem Methoden-Unterlagen für die Teams vorbereitet, die bei der Durchführung von hybriden Workshops helfen. Es gibt klare „Ways of Working“, wie hybrides Arbeiten funktionieren kann. Und nicht zuletzt unterstützen wir unsere Teams und Führungskräfte auch mit Trainings und anderen Instrumenten.

Gleichzeitig sollen die Teams darauf achten, dass die Verbundenheit nicht verloren geht. So haben viele für sich einen festen Team-Tag vereinbart, an dem alle im Büro sind und an dem man gemeinsam zusammen Mittagessen geht.

Frau von Kyaw, was ist für eine erfolgreiche Führung besonders wichtig in so einem hybriden Arbeitsmodell, wenn Mitarbeitende sich an verteilten Orten befinden?

Felicitas von Kyaw: Führen anhand von Ergebnissen anstelle Präsenz gewinnt weiter an Bedeutung. Die Führungskraft muss damit zurechtkommen, die Mitarbeitenden nicht mehr die ganze Zeit im Büro zu sehen. Sie muss Gestaltungsfreiraum geben sowie über Ergebnisse führen und Eigenverantwortung fördern. So dass die Teammitglieder gut in ihre Kraft kommen. Ich bin davon überzeugt, dass
Vertrauen, Verantwortung und Eigenmotivation weitaus produktiver machen als die Führungskraft im Nebenzimmer.

Aber gibt es nicht das Risiko, Mitarbeitende, die sehr viel zu Hause arbeiten, gegenüber denjenigen, die viel im Büro sind, zu benachteiligen?

Carolin Rudy: Zum einen entscheidet jeder selbst, wann er wo arbeitet. Und das Full Flex Office gilt auch für jede Führungskraft, die ebenfalls viel im Homeoffice sein kann. Zum anderen haben wir auch für diesen Kontext handlungsleitende Führungsprinzipien entwickelt, die einer möglichen Benachteiligung entgegenwirken. Dazu gehören das oben genannte Führen über Ergebnisse, aber beispielsweise auch klare Kriterien zur Erkennung und Förderung von Potenzialträgern im Konzern.

Seit wann ist das neue Konzept des Full Flex Office in Kraft bei Vodafone?

Carolin Rudy: Seit Oktober 2021. Wir haben allerdings bisher keine umfassenden Erfahrungen mit allen Elementen des Modells gemacht, weil der Zutritt zum Büro coronabedingt immer noch eingeschränkt ist. Es gibt für die Büros und die Besprechungsräume reduzierte Höchstgrenzen. Viele Teams konnten das Full Flex Office deshalb noch nicht wirklich leben, weil sie zum Beispiel noch nicht als komplettes Team vor Ort zusammengearbeitet haben.

Mit welchen besonderen Herausforderungen rechnen Sie in der nächsten Zeit in Bezug auf das „neue Arbeiten“?

Felicitas von Kyaw: Die meisten Unternehmen haben jetzt die Herausforderung, neu zu gestalten und die richtige Mischung zu finden. Ein starkes Miteinander und gute Beziehungen brauchen auch ab und an ein physisches Miteinander, brauchen Präsenz. Das gilt ebenso für eine starke, gemeinsame „hybride“ Kultur. Es ist wichtig, eine gute Balance zu finden: Wann lohnt es sich, ins Büro zu kommen? Wann ist es wichtig, in eine gemeinsame Zeit vor Ort zu investieren? Wann arbeiten wir virtuell, weil wir uns vielleicht schon gut kennen und uns nur kurz austauschen müssen? Diese richtige Balance zu finden, ist für den Einzelnen genauso wichtig wie für das Team, die Abteilung und die
ganze Organisation.

Carolin Rudy: Wir haben bei Vodafone diesbezüglich schon interessante Beobachtungen gemacht. Zum Beispiel, dass, wenn man ins Büro geht, man seinen Tag anders strukturiert als es in der Vergangenheit der Fall war. Der Büro-Tag wird nicht mehr mit Meetings vollgestopft, die man genauso virtuell machen kann. Es wird bewusst Freiraum geschaffen fürs Netzwerken und für Austausch – zum Beispiel beim Lunch. Die Mitarbeitenden gehen jetzt ins Büro, um das Verbindende zu stärken und weniger, um Standardaufgaben zu erledigen, wie beispielsweise Telefonate zu führen, Excel-Tabellen auszufüllen oder Präsentationen zu erarbeiten. Das geht weiterhin gut im Homeoffice.

Wir haben im Übrigen die Pandemiezeit gut genutzt, um die Büroräume weiter zu verändern. Der Vodafone Campus war schon vorher ein attraktiver und lebendiger Ort mit Open Desk Policy, Desk Sharing und tollen Besprechungsräumen und Kaffeeküchen. Nun haben wir die Räume für Vernetzung und Begegnungen nochmal erweitert. Die Zahl der Plätze für Austausch und Arbeit im Projektteam wurde deutlich erhöht. Unsere Transformation betrifft aber nicht nur den Campus, sondern ebenfalls unsere regionalen Bürostandorte – insgesamt wird mehr als die Hälfte unserer Belegschaft neue Bürokonzepte bis Ende des Jahres erleben können.

Können Sie einmal erläutern, auf welchem Weg das Full-Flex-Office-Konzept entstanden ist? Was waren die Meilensteine? Gab es zum Beispiel ein Zielbild?

Carolin Rudy: Ja. Wir haben ein Zielbild vorformuliert, das deutlich machte, was „mehr Flexibilität“ für uns bedeutet.

Denn das haben wir angestrebt. Wir waren aber ergebnisoffen und hatten noch keine Vorstellung, wohin genau die Reise geht. Wir haben sehr früh als cross-funktionales Projektteam daran gearbeitet und auch die Geschäftsführung einbezogen. Denn es ist elementar, schnell das Commitment, das „Buy-in“, der obersten Ebene zu haben.

Auch die Mitbestimmungsseite wurde früh einbezogen. Mit einem externen Universitätsinstitut wurde zudem eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt, die die Bedürfnisse der Beschäftigten abgefragt hat. So wurde eine objektive Grundlage für ein mögliches, zukünftiges Arbeitsmodell geschaffen. Die Ergebnisse waren so eindeutig, dass wir mit den Betriebsräten am Ende eine gute Lösung entwickeln konnten. Das war ein wichtiger Punkt.

Und wir haben viel Wert auf Kommunikation gelegt, um Reaktionen zu bekommen und um immer wieder über Zwischenergebnisse und Updates zu informieren. Außerdem gab es ein Sparring-Board aus Führungskräften, mit dessen Hilfe wir regelmäßig reflektieren und Chancen und Risiken abwägen konnten.

Vodafone geht einen anderen Weg als viele andere Konzerne, die bewusst ein hybrides Arbeitsmodell als Standard formulieren und das beispielsweise drei Tage Office vorsieht. Sie haben auf solche Vorgaben verzichtet und überlassen es der Entscheidung des Einzelnen. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass die Büros leer bleiben?

Felicitas von Kyaw: Ich bin überzeugt von der hybriden Arbeitsweise. Es braucht beides: einerseits das Arbeiten vor Ort mit den anderen – vor allem, um gute Beziehungen zu gestalten, zu netzwerken und auch um gemeinsam zu arbeiten – sowie andererseits das Arbeiten von zu Hause, um Flexibilität zu ermöglichen. Dieses Mischmodell wird sich insgesamt durchsetzen.

Gibt es Befragungsergebnisse, aufgrund derer Sie eine durchschnittliche Anwesenheit im Büro schätzen können? Oder ist es ein Stück weit ein Blindflug nach der Pandemie?

Carolin Rudy: Es ist kein Blindflug. Wir haben durch Befragungen erste Meinungsbilder erfragt. Und bei uns ist es so, dass jeder sich seinen Schreibtisch bucht, einen Tag bevor er oder sie ins Büro kommt. Mithilfe der Buchungssysteme werden wir also eine gewisse Planungssicherheit bekommen. Aber klar: Wir müssen noch Beobachtungspunkte sammeln, wenn Corona mehr Freiheiten erlaubt.

Das dauerhafte Arbeiten von zu Hause führt in der Regel dazu, dass die Identifikation mit der Organisation abnimmt. Die Herausforderung wird hoch bleiben, wenn Menschen an unterschiedlichen Orten arbeiten. Welche Maßnahmen gibt es, um das Wir-Gefühl bei den Mitarbeitenden zu fördern?

Carolin Rudy: Da gibt es einiges auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist das Team für das Wir-Gefühl ein wichtiger Faktor. Es gab und gibt Workshop-Kick-offs, in denen Teams sich darauf verständigen, wie sie sich sehen wollen, wie sie inklusiv bezüglich der Meeting-Kultur bleiben können oder wann sie im Büro als Team zusammenkommen.

Wenn die Beschränkungen endgültig fallen, wird unser Campus eine noch größere Rolle für das Wir-Gefühl spielen. Die Mitarbeitenden schätzen es, sich dort auszutauschen und zu vernetzen, sich an der Café-Bar zu treffen. Es gibt eine Kantine, ein Fitness-Studio, ein Medical-Center. Das alles führt dazu, dass man in regelmäßigen Abständen immer wieder gerne im Büro sein möchte. Diese Bürowelt ist sehr attraktiv.

Ich verstehe, dass es den persönlichen Austausch vor Ort braucht, das Netzwerken, die Beziehungen. Aber reichen dafür nicht auch die Teeküche und die Kantine? Warum brauchen wir das Büro noch?

Felicitas von Kyaw: Es braucht den persönlichen Austausch vor Ort – nicht nur in der Teeküche, sondern ebenfalls in kreativen, beruflichen Kontexten. Meetingräume und Kreativflächen sind notwendig, um im Miteinander gute Gedanken und Ideen entstehen lassen zu können.

Entsteht Kreativität nur vor Ort und nicht digital?

Felicitas von Kyaw: Nein, das würde ich so nicht sagen. Mir geht es nicht nur um Kreativität oder das Erarbeiten von Neuem, um Innovation, sondern auch um die strategische Arbeit, das Vertiefen von Themen oder das Bearbeiten von Konflikten. Das geht alles auch irgendwie digital. Wir haben in der Pandemie-Zeit gesehen, dass es funktionieren kann. Doch vor Ort können wir diese Themen intensiver
besprechen, die gemeinsame Arbeit ist in Präsenz noch facettenreicher, wir können im Austausch mehr nonverbale Kommunikation und besser Stimmungen und Emotionen wahrnehmen. Es hat eine andere Qualität. Wir erleben und fühlen das Miteinander in einer anderen Dimension.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

 

Autorinnen

Felicitas von Kyaw
ist seit Januar 2022 Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin bei Vodafone Deutschland und verantwortet den Bereich Personal. Sie hat umfangreiche Erfahrung im Bereich Human Resources, Change und Transformation Management sowie im Umfeld Marketing und Sales. In der Vergangenheit war sie unter anderem bei Coca-Cola Europacific Partners Deutschland, Vattenfall sowie Capgemini Consulting tätig. Felicitas von Kyaw ist auch systemische Beraterin und Coach. Seit 2017 ist sie zudem Präsidiumsmitglied im Bundesverband der Personalmanager (BPM).
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Carolin Rudy
ist bei Vodafone seit sechs Jahren in der Verantwortung als „Head of Leadership, Development & Engagement“. In dieser Position hat sie neben dem Full-Flex-Office-Projekt auch die Integration von Unitymedia auf der People- und Change-Seite begleitet. Zuvor war Carolin Rudy zehn Jahre bei der amerikanischen Management-Beratung DDI für internationale Kunden sowie als HR Business Partner beim
französischen Industriekonzern Saint-Gobain tätig.
»Carolin bei LinkedIn

Einen Teil der Woche im Büro, den anderen im Homeoffice oder unterwegs – eine solche Mischung scheinen sowohl Mitarbeitende als auch Arbeitgeber gut zu finden. Ist das hybride Arbeitsmodell der neue Standard? Dies beantworten drei Experten im Beitrag „Hybrid Work – Zukunft der Arbeit?“.

Ist hybrides Arbeiten wirklich das „Neue Normal“?

Einen Teil der Woche im Büro, den anderen im Homeoffice oder unterwegs – eine solche Mischung scheinen sowohl Mitarbeitende als auch Arbeitgeber gut zu finden. Ist das hybride Arbeitsmodell der neue Standard? Wir haben nachgefragt.

Flagship-Store der Arbeitgebermarke

„Die Frage, wie hybrides Arbeiten zu organisieren ist, missverstehen viele Unternehmen als To-do, Anwesenheitsregeln zu formulieren. Ich verstehe die Herausforderung anders. Es gilt, zwei gewichtige Interessen auszubalancieren. Auf der einen Seite erleben Mitarbeitende die Vorteile von Remote Work, können hier auch produktiv sein und fragen sich, warum sie denn erst mit Bus oder Bahn in die Firma fahren sollten. Auf der anderen Seite aber braucht gerade eine Kreativagentur wie Achtung! eine starke Kultur sowie ein kreatives Miteinander. Wir haben uns daher entschieden, an der Attraktivität der Agenturräume zu arbeiten, sodass alle von sich aus gern in die Agentur kommen. Wir haben die Räume umgestaltet, eine Bar gebaut und in ein Bistro investiert. Wir organisieren spannende interne Events. Es kommen anregende „Guest Speaker“ und regelmäßig steht ein Food Truck vor der Tür. Die Vision ist: Unsere Räume sollen zum Flagship-Store unserer Arbeitgebermarke werden. Sie sollen anziehen, inspirieren und immer wieder überraschen.“

 

 

Mirko Kaminiski, CEO der Kreativagentur Achtung!

 

Zwischen Flexibilität und Einsamkeit

„Die vergangenen beiden Jahre haben zu einem Umdenken in vielen Führungsetagen geführt. Hybrides Arbeiten ist für Wissensarbeitende mittlerweile das „New Normal“ und wird auch zukünftig Bestandteil der Arbeitswelt sein. Vieles wird noch ausgelotet. Das geht von „Unternehmen vertrauen ihren Beschäftigten, zu entscheiden, wann und für welche Tätigkeiten es sinnvoll und erforderlich ist, ins Büro zu kommen“ bis hin zu einer Mindestzahl an Präsenztagen, um Kontakte zu pflegen und ein Wir-Gefühl zu schaffen.

Personalverantwortliche müssen die richtige Mischung für die eigene Unternehmenskultur finden, die die Arbeitskräfte, die jeden Tag im Betrieb sein müssen, nicht vergisst. Es geht darum, Spaltungen der Belegschaft vorzubeugen, aber dennoch möglichst viel Flexibilität zu gewähren. Dabei müssen Performance und Wellbeing beachtet werden, damit der Kurs – wenn nötig – schnell nachjustiert werden kann.“

 

 

Inga Dransfeld-Haase, „Senior Partner People & Culture BP Europa DACH“ und Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager:innen

 

Das Unternehmen als sozialer Ort

„Die kurze Antwort: Ja, zumindest überall da, wo ortsunabhängiges Arbeiten tätigkeitsbedingt möglich ist. Natürlich werden auch in Zukunft Autos in der Montagehalle gefertigt und Haare im Friseursalon geschnitten. Aber die vergangenen zwei Jahre haben einfach zu überzeugend gezeigt, wie viele Tätigkeiten und Prozesse auch mit substanzieller Virtualität erledigt werden können. Die Erwartungshaltungen der Mitarbeitenden dazu sind auch klar gestiegen. Aber das heißt nicht, dass das „neue Normal“ so virtuell wie möglich sein sollte. Auf die Mischung wird es ankommen, um das „Beste beider Welten“ dauerhaft wirklich gut, produktivitätsorientiert sowie auch mit Blick auf die soziale
Gemeinschaft und die soziale Eingebundenheit zu gestalten. Das Unternehmen auch als sozialer Ort muss konzeptionell gedacht und gestaltet sein. Das bedeutet ebenfalls, dass das bisherige Konzept des
Büros überdacht und angepasst werden sollte. Wir brauchen dort vielfältigere, auf Aktivitäten basierte Zonierungskonzepte, die Begegnung, Projektarbeit, Kommunikation und Innovation unterstützen.“

 

 

Dr. Josephine Hofmann leitet die Abteilung Zusammenarbeit und Führung am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation Stuttgart

 

changement! Heft 05/2022

 

Bei Bayer spielt People Analytics eine immer größere Rolle. Auch mithilfe des Programms „Data2Insights“ wird das Thema im Konzern vorangetrieben. Sebastian Kolberg, der „Data2Insights“ mitverantwortet, spricht im Interview über den Nutzen des datenbasierten Arbeitens und wie man es Führungskräften und Mitarbeitenden näherbringt.

Herr Kolberg, Sie tragen bei Bayer Mitverantwortung für das Programm „HR Data2Insights“. Was ist das genau?

Wir beschäftigen uns bei „Data2Insights“ generell mit der Frage, wie wir Daten nutzen können, um Führungskräften die Entscheidungsfindung zu erleichtern und schließlich zu besseren, fundierteren Entscheidungen zu gelangen. Letztlich wollen wir einen handfesten Mehrwert für das Unternehmen schaffen. Im Hintergrund befassen wir uns zudem mit weiteren Fragen: Wie können wir unsere HR-Prozesse mit Analytics effektiv unterstützen? Wie können wir den Wert von besseren Entscheidungen mit KPIs messen und welche Daten helfen Entscheidungsträgern dabei, passgenaue und möglichst inklusive Personalentscheidungen zu treffen? Und wie können wir die Kultur für ein stärker datenbasiertes Arbeiten schaffen?

Inwieweit ist People Analytics Ihrer Meinung nach ein wichtiger Hebel im Rahmen der digitalen Transformation bei Bayer? 

Bei der Planung und Steuerung des operativen Geschäfts sind datengestützte Entscheidungen die Regel. Wir bei Bayer sind davon überzeugt, dass es für den Erfolg der laufenden Transformation des Konzerns entscheidend auf die Qualität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ankommt. Indem wir nun auch datenbasierte Personalentscheidungen ermöglichen, treiben wir nicht nur die digitale Transformation von Bayer voran, sondern leisten auch einen wichtigen Beitrag zur zukunftsorientierten Neuausrichtung des Unternehmens.

Wer ist die Zielgruppe Ihres Handelns – nur HR oder auch das Business?

Das lässt sich nicht voneinander trennen. Unser Business wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir die besten Talente finden, sie gemäß ihren Fähigkeiten einsetzen und sie dabei unterstützen, bei uns ihr volles Potenzial zu entfalten. HR spielt dabei als strategischer Partner des Business eine entscheidende Rolle. Daneben verbessern unsere Daten auch die strategische Personalarbeit im Sinne unserer Konzernziele. Als Beispiel nenne ich einmal „Inclusion & Diversity“: Wir wollen bei Bayer bis spätestens 2030 Geschlechterparität im Management erreichen. Mit unseren HR-Cockpits sehen wir in Echtzeit, wo wir bei diesem Ziel gerade stehen und wo wir eventuell nachsteuern müssen. Wir analysieren zudem, ob unsere Beschäftigten unabhängig von ihrem Geschlecht gleich bezahlt werden – auch damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zu Fairness und Gleichberechtigung im Unternehmen.

Wie bringen Sie Ihren Zielgruppen People Analytics und datenbasierte Entscheidungen näher? Wie gehen Sie vor?

„Neben dezidierten Schulungen zu den Themen Visualisierung von Daten und Storytelling mit Daten bieten wir auch virtuelle Lernpfade an.“

Zum Beispiel: „Data-Driven Decision Making for Business Professionals“. Eine besondere Rolle spielt hier unsere „Data2Insights Champions Community“, in der sich Freiwillige aus dem ganzen Konzern zusammengefunden haben, um sich intensiv schulen zu lassen und ihr Wissen anhand von sehr konkreten Use Cases aus der täglichen Praxis weiterzugeben. Auch unser internes Enterprise Social Network „Yammer“ spielt für Wissensaustausch und Vernetzung eine wesentliche Rolle.

Gibt es Pilotgruppen oder Bereiche, mit denen Sie bestimmte Anwendungen testen?

„Wir binden unsere Zielgruppen grundsätzlich von Anfang an mit ein.“

Was ist das konkrete Business-Problem? Wie können Daten und Insights dabei helfen, bessere Entscheidungen und Lösungen zu erzielen? Wir orientieren uns in der Entwicklung also an ganz konkreten Fragestellungen aus der Praxis. Wie unsere gesamte HR-Dateninfrastruktur sind auch unsere Dashboards und Cockpits grundsätzlich global. Bei ihrer Einführung und Weiterentwicklung werden wir von einer internationalen und sehr divers strukturierten User Community unterstützt.

Haben Sie im Rahmen des Programms konkrete Ziele? Müssen Sie konkrete KPIs erfüllen?

Wir wollen mit unseren Tools einen konkreten Nutzen stiften. Neben besseren Entscheidungen geht es uns dabei auch um eine gute „Employee Experience“, also das Gefühl der Beschäftigten, in einem modernen Unternehmen mit zeitgemäßen digitalen Prozessen zu arbeiten. Gerade im Hinblick auf die Etablierung einer „digitalen Unternehmenskultur“ leisten wir mit unseren Lösungen, die als echte Hilfe und Arbeitserleichterung wahrgenommen werden, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. In der Einführungsphase geht es uns vor allem darum, dass die Anwender die Tools regelmäßig nutzen, gern mit ihnen arbeiten und ihren Mehrwert erkennen. Wir messen derzeit daher hauptsächlich die Nutzungshäufigkeit und – mit einem begleitenden Kurz-Survey – die Bereitschaft der Anwender, das Tool im Kollegenkreis zu empfehlen. Später wollen wir das KPI-Set weiter verfeinern.

Data2Insights-Erläuterung

Themen rund um Daten und Data Analytics sind sicherlich für viele nicht einfach. Nicht wenige haben Berührungsängste. Wie berücksichtigen Sie das? Haben Sie dafür spezielle Methoden?

Unsere Erfahrung ist: Einfach machen, bei den Anwendern Aha-Momente erzeugen und den Nutzen unserer Tools anhand von konkreten Beispielen erläutern. Das hat sich als sehr wirkungsvoll erwiesen. Berührungsängste gibt es gelegentlich. Sie lassen sich aber überwinden, wenn man sie ernst nimmt.

Welche Methoden, Formate und/oder Tools setzen Sie ansonsten ein, um „ein neues Arbeiten“ erlebbar zu machen und Vorbehalte abzubauen?

„Wichtig sind zunächst Transparenz und die Möglichkeit, über die eigenen Erfahrungen mit den neuen Tools offen sprechen zu können.“

Dafür haben wir mehrere Kanäle geschaffen. Entwickelt und eingeführt wurden die HR-Cockpits in einem agilen Projekt-Setup mit allem, was dazugehört, etwa Sprints und Kanban Boards. Wichtig waren uns auch die Anwendung von Design-Thinking-Prinzipien und begleitende Nutzer-Interviews. Am Anfang haben wir die Nutzung der Tools ausgewertet, indem wir bei Testnutzern die Augenbewegungen über den Bildschirm verfolgt haben. Auf Vorbehalte sind die Neuerungen eigentlich nicht gestoßen – im Gegenteil. Viele Manager und Managerinnen
haben uns schon vor ihrer Einführung auf die Tools angesprochen und sich als Test-User angeboten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 02/2022

 

Autor

Sebastian Kolberg
ist seit 2011 bei der Bayer AG beschäftigt. Nach seiner Aufgabe als Global Head of Learning & Training hat er 2018 und 2019 als globaler Change Management Lead das Thema „Advancing Digital Transformation and Culture“ verantwortet. Seit Anfang 2020 leitet er im Bereich „Talent & Transformation“ funktionsübergreifende Projekte zur Einführung neuer Technologien wie künstliche Intelligenz in der Personalauswahl und die Anwendung von DataScience und People Analytics im HR-Bereich.
»Sebastian bei Linkedin

 

Wie viele andere Finanzinstitute hierzulande befindet sich auch die DKB mitten in der Transformation. Dabei zeigt sie allerdings besonderen Ehrgeiz: Sie will nicht nur eine nachhaltige Tech-Bank werden, sondern gleichzeitig auch noch stark wachsen. Karsten Traum, Generalbevollmächtigter sowie Leiter Unternehmensentwicklung und Solutions, spricht im Interview über die Vision der Bank, kulturelle Spannungsfelder sowie die Transformations-Roadmap der DKB.

Herr Traum, mein Eindruck vom Bankenwesen war lange der, dass es sich um eine traditionelle und behäbige Branche handelt, die nicht in der Lage ist, sich wirklich zu wandeln. Mittlerweile lässt sich jedoch seit wenigen Jahren einiges an Veränderung im Bankensektor beobachten. Die Banken scheinen in der Mehrzahl verstanden zu haben. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ja, den teile ich. Und ich glaube auch, dass der Wandel notwendig ist – insbesondere in Deutschland. Wenn man sich die Banken hierzulande anschaut, dann sieht man viele etablierte Institute, denen es lange Jahre sehr gut ging. Das Marktumfeld war überaus positiv. Das hat sich mit der Finanzkrise 2008 allerdings geändert. Mit der Krise haben mehr und mehr Banken verstanden, dass sich die Dinge auch ändern können: beispielsweise das Kundenverhalten, die Rahmenbedingungen oder die Regulatorik. Diesen Veränderungsdruck kann man nicht mehr aussitzen. Die Branche ist in Zugzwang geraten, sich zu wandeln. Das muss jedoch innerhalb eines schwierigen Spannungsfeldes passieren, das geprägt ist von sich ändernden Märkten, Kunden- und Mitarbeitererwartungen sowie unterschiedlichen Regularien durch die Politik.

Die DKB will sich nicht nur transformieren, sondern gleichzeitig ebenfalls wachsen. Sie hat sich einiges vorgenommen: Bis Ende 2024 will sie die Zahl von acht Millionen Kunden erreichen, derzeit zählt sie knapp fünf Millionen. Für diese fünf Millionen hat ihr Unternehmen etwa 30 Jahre gebraucht. Warum jetzt so ein ehrgeiziges Ziel?

Unsere Ambition hinsichtlich der Transformation einerseits und in Bezug auf das Wachstum andererseits passen gut zusammen. Das Ziel der acht Millionen Kundinnen und Kunden ist Ausdruck dieses Ambitionsniveaus, der Anspruch, dass wir zu den Großen und den Gewinnern der Branche gehören wollen. Zudem steckt hinter der Zahl ein qualitatives Wachstum der Bank.

Und wie erreichen Sie die acht Millionen?

Indem wir zum Beispiel unsere Prozesse komplett überdenken und in neue Systeme investieren. Wir nehmen gemeinsam mit unseren Gesellschaftern richtig Geld in die Hand, um die Bank zu transformieren.

„Mit den Prozessen und Systemen der vergangenen 30 Jahre wären acht Millionen Kundinnen und Kunden nicht zu schaffen.“

Aber wie genau geht die Rechnung? Die Prozesse werden schlanker, digitaler und kundenorientierter, sodass die Dienstleistungen und der Service der DKB für noch mehr Kunden interessanter werden?

Es ist vielschichtig. Das, was Sie nennen, ist die Basis für das Wachstum. Wenn man das nicht hat als Bank, braucht man nicht über acht Millionen Kundinnen und Kunden nachdenken.

Die DKB bringt als etablierte Online-Bank im Retail-Segment zum Glück gute Voraussetzungen für den Erfolg von morgen mit. Gerade hier sehen wir jetzt schon den Beginn der Konsolidierung im Markt. Vielen anderen Wettbewerbern geht die Luft aus, wenn man unter anderem die Cost-Income-Ratio-Entwicklungen der Banken anschaut. Wir stehen hingegen heute gut da. Der Wandel der Bankenbranche wird uns in die Karten spielen. Wir sehen das bereits heute Woche für Woche in den Zahlen. Deshalb ist das Wachstumsziel realistisch.

Hilft Ihnen dabei, dass Sie im Vergleich zu den meisten anderen Banken keine Filialen haben?

Wir sind im Online-Segment schon immer ohne Filialen gewachsen. Das ist im Retail-Geschäft für uns gelernte Praxis. Was jedoch viele vergessen, ist, dass die DKB neben dem Retail-Business ein großes Firmen- und Geschäftskundensegment betreibt. In diesem Bereich haben wir regionale Standorte, um Kundennähe herzustellen, aber keine klassischen Filialen. Das ist durchaus ein Vorteil.

Was sind die größten Herausforderungen, damit das Wachstum tatsächlich gelingen kann? Ist es vielleicht das Vorhaben, Digitalexperten, sprich: Techies, in ausreichend hoher Zahl zur Bank zu locken?

Die Antwort darauf hat mehrere Facetten. Zum einen brauchen wir für den Wandel natürlich Digitalisierungsexpertinnen und -experten mit den notwendigen Kompetenzen. Mindestens genauso wichtig ist eine Priorisierung der verschiedenen Themen und Vorhaben. Eine der größten Herausforderungen für Banken, aber auch für andere Industrien, ist, sich im Change- und Transformationsprozess nicht zu viel vorzunehmen. Es nützt nichts, wenn Sie hundert Techies einstellen, mit denen Sie in einem Jahr die Dinge nachholen wollen, die Sie in 30 Jahren zuvor nicht geschafft haben oder nicht angegangen sind.

Man braucht also neben den richtigen Profilen eine echte Transformations-Roadmap, das heißt eine klare Orientierung hinsichtlich der Frage: Wer macht was, wann, wie? In diesen Punkt haben wir viel Zeit und Energie investiert.

Und Ihre Transformations-Roadmap soll Sie zu dem Ziel führen, eine Tech-Bank zu werden?

Wir haben den Begriff der „nachhaltigen Tech-Bank“ geprägt. Im Bereich der Nachhaltigkeit sind wir schon gut unterwegs mit unserem Geschäftsmodell. „Tech-Bank“ steht für Technologieunternehmen mit Banklizenz. Das zeigt, wohin die Reise geht. Unser Chief Digital Officer und Vorstandsmitglied, Arnulf Keese, hat, als er bei uns anfing, den schönen Satz gesagt: „Wir sind ganz viele Banker bei der DKB, die alle ein bisschen mehr Techies werden müssen. Und die Techies müssen ein bisschen mehr Banker werden.“

Banken werden in Zukunft hochtechnologisiert und datengetrieben Geschäfte mit und an den Kundinnen und Kunden machen. Die Banklizenz wird wahrscheinlich eher eine Art Anhängsel sein.

Was sind die großen Säulen oder Handlungsfelder Ihrer Transformations-Roadmap?

In unserem Strategiekonzept zu unserem Wachstumspfad haben wir vier Säulen. Die erste Säule ist der „Kunde“. Die zweite Säule ist der „Markt“, die dritte sind die „Prozesse“ und die „Organisation“ bildet die vierte Säule. Und innerhalb dieser vier Säulen gibt es wiederum „Sub-Strategien“.

Beim Themenfeld „Kundinnen und Kunden“ geht es beispielsweise um die Frage, wie man die User Experience verbessern kann. Wir bauen mit unserer DKB Code Factory aktuell ein komplett neues Banking auf. Das haben wir bereits in der Beta-Phase veröffentlicht. Es ist ein MVP, ein Minimal Viable Product, das naturgemäß noch nicht fertig ist – und es wird vermutlich niemals fertig, sondern sukzessive immer weiterentwickelt. Ein anderes Beispiel ist unser DKB-Sofortkredit. Der erlaubt es unseren Kundinnen und Kunden nahezu in Echtzeit Kredite abzuschließen und direkt ausgezahlt zu bekommen.

Beim Thema „Markt“ schauen wir, wie wir uns positionieren wollen und was unsere Ziele sind. Hier spielen unter anderem viele Kennzahlen eine Rolle, wie zum Beispiel die von mir vorhin erwähnte Cost-Income-Ratio. Wir vergleichen uns mit Wettbewerbern, blicken aber genauso auch über den Tellerrand und benchmarken uns immer wieder mit anderen Industrien.

Bei der Säule „Prozesse“ betrachten wir sämtliche Prozesse der Bank. Wir schauen, welche den größten Hebel haben, zum Beispiel bezüglich der Kundinnen und Kunden. Wir untersuchen, wo wir zu langsam sind und wo wir investieren müssen. Die Analysen zeigen, an welche Prozesse wir zuerst herangehen sollten, um die Bank bis 2024 neu aufzustellen.

Beim Thema „Organisation“ haben wir sehr lange überlegt, ob wir die DKB in einem Ruck transformieren, wie es zum Beispiel die ING gemacht hat.

Wir gehen einen anderen Weg. Wir haben in den vergangenen anderthalb Jahren sehr viel pilotiert, in unterschiedlichen Bereichen Themen einfach mal ausprobiert. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir die Piloten auswerten: Was hat gut funktioniert? Und was nicht? Wo passt Agilität? Wo passt agiles Arbeiten gut mit Hierarchie und wasserfallartigem Arbeiten zusammen? Und wo müssen wir Rollen verändern?

Aus den Antworten solcher und ähnlicher Fragen entsteht das Zielbild in Bezug auf die Organisation in der DKB. Und es wird am Ende sehr wahrscheinlich nicht das eine Organisationsmodell sein, das wir über sämtliche Bereiche ausrollen.

Unter den vier Säulen war keine mit dem Namen „Digitalisierung“ oder „Technologie“. Liegt das Thema quer zu den anderen?

Unsere Vision ist ja die der „nachhaltigen Tech-Bank“. Da stecken zwei große Themen drin, die sich in der Tat einmal komplett durchziehen. Wir haben ganz bewusst nicht die eine Tech-Säule gewählt, weil man ein Unternehmen nicht über die eine Tech-Einheit transformieren kann. In vielen Finanzinstituten gibt es noch diesen Irrglauben, man könne einfach zum Chief Digital Officer oder in die IT-Abteilung gehen und dort den Auftrag zur Transformation abgeben. Das funktioniert nicht.

In jedem Bereich muss man sich anschauen, was man manuell oder digital bzw. automatisiert macht. Es geht um die Frage: Was braucht es, um die Dinge zukünftig schneller, effizienter und kundenorientierter zu machen? Und welche Technologie hilft dabei?

Welche Struktur verbirgt sich hinter den Säulen der Transformation? Sind das jeweils Workstreams mit Projektleitern, die sich den jeweiligen Themen annehmen?

Da stecken zum Teil Projekte dahinter, auch sehr große mit den entsprechenden KPIs, wie zum Beispiel die Überarbeitung unseres Firmenkundenkreditprozesses oder die Neukonzeption des Bankings. Das können aber auch kleinere Themen sein, die eher in der Linie bearbeitet werden.

„Uns ist wichtig, dass diese Veränderungsprozesse nicht nur in Projekten passieren, sondern sich ebenfalls in der alltäglichen Arbeit etablieren.“

Und welche Rolle spielt die Code Factory der DKB bei der Transformation?

Die DKB Code Factory war bei der Gründung 2018 für uns ein Experiment. Wir wollten die DKB als Arbeitgeberin attraktiver für Tech-Talente – auch international – machen und gleichzeitig eine agile und innovative Einheit für die Produktentwicklung schaffen.

Heute ist die DKB Code Factory mit über 110 Mitarbeitenden am Markt etabliert und angekommen. Sie ist aber kein ausgelagertes Innovation Lab, sondern integraler Bestandteil der IT-Wertschöpfungskette. Beispielsweise wird das neue Banking in der Code Factory programmiert. Es gibt also Wechselwirkungen in beide Richtungen und beidseitiges Lernen voneinander.

Lassen Sie uns noch mal auf die Säule „Organisation“ schauen. Was steckt genau drin an Themen? Geht es um Kultur, Rollen und Strukturen?

Die Organisations-Säule hat viele Facetten – bis hin zu Themen rund um die Veränderung der Organisationsstruktur der Bank. In den Piloten erarbeiten wir unter anderem, in welchen Ablaufstrukturen wir unterwegs sein wollen.

Könnten Sie es einmal konkret machen und anhand eines Pilotprojektes verdeutlichen, was in diesem Bereich bearbeitet wird?

Gerne. Wir können als Beispiel unsere IT-Abteilung nehmen. Die hat in der Vergangenheit ganz klassisch wasserfallartig und hierarchisch gearbeitet. Es gab die Bereichsleitung, darunter die Fachbereichs- und Teamleitungen. Nun haben wir auf eine agile Organisation umgestellt, die iterativ, also schrittweise vorgeht. Außerdem ist die Führung zweigeteilt. Es gibt einerseits die fachliche Führung sowie andererseits die Führung durch den People Lead, der oder die sich beispielsweise um Themen wie Weiterentwicklung kümmert.

Nun ist die Herausforderung zu schauen, wie die IT zu anderen Bereichen, wie zum Beispiel das Regulatory Office, hinsichtlich der Zusammenarbeit passt. Wenn die Regulatory-Fachbereichsleitung auf den Chapter Lead „Digital Products and Technology“ trifft, dann müssen die irgendwie miteinander sprechen können.

Das ist ein Cultural Clash?

Ich bin mir sicher, dass es den noch eine Zeitlang geben wird in den Banken. Dieser Cultural Clash ist bereits heutzutage im Geschäftsmodell angelegt. Denn einerseits gilt es für die meisten Institute, sich zu technologisieren und sich mit anderen Technologieunternehmen zu messen. Andererseits ist jede Bank gleichzeitig eine hochregulierte Organisation, die von der Bafin bzw. von der EZB kontrolliert wird.

„Es wird immer Subkulturen geben – und das ist auch richtig.“

Wenn ein Finanzinstitut nur in Richtung Tech geht, wird es eventuell andere relevante Themen wie Bankenauflagen oder Risikothemen niedriger priorisieren.

Allerdings ist es auch nicht sinnvoll, nur die Regulatory-Einheit zu fragen. Denn dann würde man in der Zukunft wahrscheinlich zu wenig Geschäft machen. Wie bei so vielen Dingen im Leben: Die Mischung macht’s.

Dieser Kulturwandel bzw. der Culture Clash, wo oder wie lässt sich der noch konkret greifen in der Organisation?

Am besten kann man ihn wahrscheinlich greifen oder erleben, wenn Projekte wieder in die Linie gehen. Nehmen wir zum Beispiel ein Projekt, in dem komplett agil an einem neuen Produkt oder Service gearbeitet wird. Wenn es dann in die Linie übergeben wird, merkt man häufig noch einen Culture Clash. Hier trifft an manchen Stellen ein schnelles, MVP-getriebenes Team auf die Legacy einer Bank. Dann stehen wieder eher konventionelle Fachbereichstreffen und Team-Jour-Fixes an, statt Experimentieren und „Dailys“. Dieser Übergang ist eine der größten Herausforderungen, die wir derzeit haben. Das Risiko dabei Mitarbeitende zu verlieren, ist nicht klein.

Ein wesentliches Element der agilen Organisation ist häufig die Produktentwicklung durch cross-funktionale, also interdisziplinäre Teams. Haben Sie dazu auch Piloten?

Das ist heute im Grunde genommen unsere Herangehensweise. Der Anstoß zu einem neuen Produkt kommt immer aus einem kundennahen Bereich, der zum Beispiel einen Need unserer Kundinnen und Kunden durch Beobachtung oder Befragung herausgefunden hat. Oder der Anstoß kommt aus der Strategie auf Basis von Marktbewegungen der Wettbewerber.

Im nächsten Schritt entstehen dann die cross-funktionalen Teams, beispielsweise bestehend aus Produktmanagerinnen und -managern sowie Mitarbeitenden aus der IT sowie unserem Bereich der Unternehmensentwicklung und Solutions.

Wir haben im vergangenen Jahr dazu ein Rollenmodell entwickelt. Es wird bei größeren Projekten herangezogen. Wir nennen es „Three in a
box“. Diese drei Steuerungsrollen sind: der Product Owner, der sich unter anderem um die Weiterentwicklung des Produkts kümmert; der Tech Owner, der in der Lage ist, Business- und Tech-Anforderungen zu übersetzen; sowie der Project Owner, dessen Aufgabe es ist, das große Themenpaket in kleine Teile zu schneiden und es „in Time“ und „in Budget“ über die Ziellinie zu bringen. Solche cross-funktionalen Teams gibt es mittlerweile in allen Bereichen der Bank.

Aufgrund der Transformation und ihrer Vision der „nachhaltigen Tech-Bank“ brauchen Sie das Commitment der Mitarbeitenden für die Veränderungen. Diese müssen die Motivation mitbringen, sich auch selbst zu verändern und beispielsweise neue Kompetenzen entwickeln. Mit welcher Strategie gehen Sie das an?

Zunächst einmal möchte ich betonen, wie wichtig die Kommunikation hierbei ist. Vor über drei Jahren haben wir unsere Social-Intranet-Plattform etabliert, die im Rahmen einer transparenten Kommunikation eine bedeutende Rolle spielt. Dort finden sich diverse News aus dem Unternehmen zu Projekten, Angeboten und so weiter. Und natürlich auch alles rund um die Transformation: Botschaften des Vorstands, die Vision, die Ziele von Projekten sowie ein Dashboard zum Status der Vorhaben. Unsere Mitarbeitenden wissen, wo wir als DKB hinwollen und wo wir uns auf der Reise befinden. Dadurch entsteht ein Stück weit Transformationsenergie und das ist die Basis für Veränderung.

Wir unterstützen alle, die bereit sind, sich weiterzuentwickeln und Neues auszuprobieren. Wir haben sowohl umfassende Reskilling- Programme als auch Formate, die zum Beispiel einen ersten Zugang in die Tech-Welt möglich machen.

Ich greife einmal eines heraus, unseren Coding Appetizer. Mitarbeitende ohne Tech-Hintergrund bekommen in Sachen Coding Schnupperstunden. Da geht es zum Beispiel um Java oder Python. Die Teilnehmenden probieren sich selbst aus und schreiben erste eigene Codes. Das Besondere dabei: Das Lernangebot kommt nicht von externen Coachs oder Seminaranbietern, sondern von unseren eigenen Leuten aus dem Tech-Bereich und die „kleinen Lernhappen“ lassen sich gut in den Arbeitsalltag integrieren.

Es wird Mitarbeitende geben, die den Wandel nicht mitgehen wollen oder können.

Sicher.

„Wir werden nicht jede und jeden auf diesem Weg mitnehmen können, wenn er oder sie es nicht will.“

Das kommunizieren wir jedoch ebenfalls sehr transparent. Wir wollen mit einer großen Klarheit unterwegs sein.

Macht das nicht auch manchen Angst?

Es mag manche geben, denen das Angst macht. Wir alle sollten uns immer wieder hinterfragen und dazulernen. Das gilt für mich selbst ganz genauso. Die eigene Veränderungsbereitschaft ist wichtig, denn die Umwelt um uns herum dreht sich rasant und es gilt, ihr mit der entsprechenden Energie zu begegnen. Angst habe ich davor nicht, aber Respekt.

Ich möchte in jedem Fall Teil der Transformation sein und bilde mich deshalb immer wieder weiter. Das kann und sollte jeder bei der DKB auch machen.

Was wünschen Sie sich mit Blick auf die Transformation für die DKB?

Ich wünsche mir zunächst, dass wir als Organisation und mit den Menschen gut durch die nächsten Pandemie-Monate kommen. Es ist wichtig, die Leute nicht zu überlasten. Wir müssen uns treu bleiben und nicht einfach zahlreiche Ideen in die Luft schmeißen, sondern unseren Plan jetzt sukzessive abarbeiten, um die Ziele zu erreichen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

changement! Heft 01/2022

 

Interviewpartner

Karsten Traum
ist bereits seit 2012 bei der DKB (Deutsche Kreditbank AG) und sieht sich damit selbst schon beinahe als „Urgestein“ der Bank. Heute leitet er mit einem Kollegen zusammen den Bereich Unternehmensentwicklung und Solutions, in dem etwa 130 Mitarbeitende tätig sind. Gemeinsam beschäftigen sie sich vor allem mit der Entwicklung der Strategie sowie ihrer Umsetzung und Kommunikation in den Markt. Karsten Traum kann sich also nicht im strategisch-konzeptionellen Elfenbeinturm verschanzen, sondern muss die Themen auch auf die Straße bringen. Die Transformation der DKB treibt er so maßgeblich mit voran. Das Vertrauen des Vorstands hat er. Seit Kurzem ist er Generalbevollmächtigter der Bank.

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Klaus Doppler ist einer der profiliertesten Berater Deutschlands. Seit Jahrzehnten setzt er sich mit dem Thema Veränderungen auseinander und berät dazu Spitzenmanager und Unternehmenslenkerinnen. Er kann sogar von sich behaupten, den Begriff „Change Management“ überhaupt erst im Management der Firmen hierzulande bekannt gemacht zu haben. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Change und warum es nicht gut ist, Widerstand gegen Veränderungen zu ignorieren.

Herr Doppler, Sie beschäftigen sich so viele Jahre mit Themen rund um Veränderungen gestalten und Change Management. Was fasziniert Sie daran?

Ich habe nie so sehr auf Theorien geschaut, sondern mich von Anfang an gefragt, wie es tatsächlich in der Praxis läuft. Das hat mich fasziniert. Mir war schnell klar, dass man nur durch das Handeln lernt und weniger durch eine wissenschaftliche Ausbildung.

Als Berater wollte ich auch nie Führungskräften erklären, was sie tun sollen. Ich habe mich eher als Sparringspartner gesehen und lieber Fragen gestellt: Was passiert gerade? Wie verhalten Sie sich? Wie geht es Ihnen damit? Durch das Fragen habe ich stets versucht, mit Unternehmensvertretern gemeinsam den Kern des Problems zu finden und/oder bestimmtes Verhalten zu spiegeln. Das Ziel war auch, dass sie über sich nachdenken, darüber, was sie machen und wie sie es machen.

Das anzuregen, hat mir immer Freude gemacht – und mich beeindruckt.

Stimmt es, dass Sie den Begriff „Change Management“ in Deutschland populär gemacht haben?

Das ist lange her. Das war Mitte der 90er-Jahre. Christoph Lauterburg und ich haben damals viele Organisationen beraten bzw. haben bestimmte Prozesse begleitet. Das wurde so gut angenommen, dass wir uns irgendwann dazu entschieden, ein Buch zu schreiben, das dann tatsächlich ein richtiger Bestseller wurde.

Das war „Change Management“ …?

Ja, genau. Aber so hieß es zunächst nicht. Wir wollten, dass es schlicht „Veränderungsprozesse begleiten“ heißt. Dem Verlag war der Titel aber nicht sexy genug. Dann sollte „Change“ drin vorkommen. Der Verlagsleiter sagte dazu: „Nobody likes change, except wet babies.“ „Change“ allein war also zu wenig. Und danach kam irgendjemand auf die Idee, es „Change Management“ zu nennen. Bei unseren Recherchen stellten wir damals fest, dass es im gesamten deutschsprachigen Raum nur einen Artikel mit dem Wort „Change“ im Titel gab. Daraufhin haben wir uns dazu entschieden, das Buch so zu nennen. Der Begriff ist jedoch eher zufällig entstanden. Der Fokus, der uns wichtig war, hatte sich allerdings nicht geändert: Veränderungen zu begleiten und zu steuern. Praxisorientierte Publikationen dazu gab es damals so gut wie gar nicht, sondern es gab lediglich sehr viele Theorien.

Wie stehen Sie denn heute zu dem Begriff „Change Management“? Es gibt nicht wenige, die der Meinung sind, er sei veraltet. Zum einen wird mit dem Begriff ein klassischer Top-down-Ansatz verbunden, den viele als nicht mehr zeitgemäß empfinden. Zum anderen meint „Change Management“ in der Regel Projekte mit einem Anfang und einem klaren Ende. Die meisten Organisationen befänden sich aber in einem permanenten Wandel, was mit klassischem Change Management nicht mehr adäquat bearbeitet werden könne, sagen die Kritiker. Was ist Ihre Meinung dazu?

Man kann den Begriff auf zwei Arten betonen. Sie können „Change Management“ sagen, es also als ein zusammenhängendes Wort verstehen. Oder Sie sehen „Change Management“ wirklich als zwei Wörter, was den Fokus verdeutlicht, das Management zu verändern. Beides spielt eine Rolle. Letztlich ist es mir aber egal. Ich bin kein Verteidiger des Begriffs. Mir geht es darum, wie konkretes Verhalten gesteuert wird.

Ich habe bereits vor der Veröffentlichung des Buches damals viele sehr erfolgreiche internationale Unternehmen besucht, um herauszufinden, was sie auszeichnet und was sie anders machen als andere. Ich wollte hinter deren Geheimnis kommen. Das hat mich angetrieben.

Und was ist das Geheimnis des Erfolgs?

Das war natürlich von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Beispielsweise war ich bei Southwest Airlines, die damals kontinuierlich in den schwarzen Zahlen waren. Dort wurde unter anderem immer wieder eines betont: Hire for attitude, train for skills. Es braucht Menschen mit der richtigen Einstellung. Das ist die Grundvoraussetzung.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach ein solches Erfolgsgeheimnis auch mit Blick auf das „Gestalten von Veränderung“, ein Faktor, der im Change immer wichtig ist – unabhängig von der Organisation und vom Vorhaben?

In der Regel macht ein ganzheitlicher Ansatz Sinn, sich also nicht nur auf eine Dimension zu konzentrieren. Wenn in einem Unternehmen ein Wandel vorangetrieben werden soll, beispielsweise man will kundenorientierter agieren oder bessere Produkte entwickeln, dann gilt es, sich der Herausforderung ganzheitlich zu nähern. Das heißt beispielsweise, zunächst den Kontext zu betrachten: Was passiert im Umfeld? Wer genau will etwas verändern? Wer ist davon betroffen? Welche Interessen sind im Spiel? Inwieweit sind Widerstände zu befürchten? Welche Konflikte sind verdeckt?

Wer erfolgreich etwas verändern möchte, muss alles parallel anschauen. Es nützt nichts, irgendwelche Phasenmodelle durchzugehen und wenn die Schritte gemacht sind, ist alles vorbei. Zudem muss Veränderung heute in der Regel vernetzt, also bereichsübergreifend und iterativ ablaufen. Man geht einige Schritte voran, macht Erfahrungen und passt daraufhin das Vorgehen an, was auch heißen kann, dass man wieder etwas zurückgehen muss.

Manche Kunden haben mir dazu schon gesagt, das sei komplex. Woraufhin ich meist sage: Ja, das Leben ist halt komplex. Wichtig ist, nicht lange im Vorfeld zu diskutieren, sondern anzufangen, aber flexibel zu bleiben und alle Dimensionen zu betrachten. Wir wissen meist nicht, wie die Zukunft aussieht. Wir lernen aber, indem wir handeln, uns verhalten und dadurch Erfahrungen machen.

Was halten Sie von klassischen Change-Management-Modellen wie zum Beispiel John Kotters „Acht-Stufen-Modell“? Haben die noch eine Gültigkeit?

Für mich nicht, weil sie eine Planbarkeit vorgaukeln, die es meist nicht gibt. Man muss immer auf Überraschungen und Unruhe vorbereitet sein. Es gibt keine normale Normalität. Deswegen muss ich ein wenig lächeln, wenn ich gefragt werde, wann wieder die Normalität einkehrt. Was soll das sein? Das Einzige, was es sicher gibt, ist eine dynamische Normalität. Change ist kein stabilisierendes Vorhaben im Sinne von „Wenn wir etwas verändern, ist alles in Ordnung“. Sondern: „Das Leben ist Change. Veränderung gibt es immer.“

Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch zusammen mit Luyanda Mpahlwa veröffentlicht mit dem Titel „Die Logik der Anderen“. Ich habe es als Appell verstanden, zu akzeptieren, dass es im Change nie nur eine Wahrheit gibt, sondern immer auch andere Perspektiven und Interessen oder eben Logiken. Und das heißt auch, dass mancher Widerstand gegen Veränderungen nachvollziehbar wird, wenn man die jeweilige Logik kennt.

So ist es. Widerstand ist Energie und ist für mich völlig normal. Jemand ist im Moment gegen etwas, weil er zum Beispiel noch nicht sieht, was der Vorteil ist oder welche Gefahr besteht, etwas zu verlieren. Der entscheidende Punkt ist, dass man den Widerstand nicht einfach verteufeln darf, sondern sich mit ihm auseinandersetzen muss.

Das klingt aufwendig und nach einem enormen Zeitinvestment.

Natürlich. Die Zeit muss man sich nehmen, denn wer den Widerstand unterdrückt, macht einen Fehler. Hinter dem Widerstand steckt Energie und es lohnt sich herauszufinden, wo sie herkommt. Man muss jedoch die anderen und ihre Logik wirklich verstehen wollen. Einfach nur so zu tun, als höre man zu, reicht nicht.

Und wenn ich die Logik der anderen verstanden habe, versuche ich, meine Logik zu erklären. Erst auf dieser Basis sollte die Entscheidung getroffen werden, ob man beispielsweise das Veränderungsvorhaben, wie ursprünglich gedacht, weiter vorantreibt oder es anpasst und einen alternativen Weg wählt. Den Widerstand verstehen zu wollen, heißt nicht, ihn automatisch gut zu finden. Es gibt auch Entscheidungen, die ohne eine gemeinsame Basis mit allen Gruppen gefällt werden. Aber man tut dies dann ohne Ignoranz gegenüber den anderen Logiken.

Logik klingt sehr rational. Geht es auch darum, die Emotionen der anderen nachvollziehen zu können, die bezüglich einer Veränderung entstehen?

Auf jeden Fall. Wenn ich erfolgreich sein will im Change, bin ich gut beraten, sowohl die Sachebene als auch die psychologische Ebene im Blick zu haben. Das sehen wir schon bei der Zusammenarbeit in Teams. Wenn Sie ein neues Teammitglied suchen, dann geht es einerseits darum, ob jemand die nötigen Kompetenzen und Qualifikationen mitbringt. Das ist die Sachebene. Andererseits stellen sich ebenfalls Fragen wie „Ist er oder sie bereit, für das Team das Beste zu geben?“, „Kann ich ihm oder ihr vertrauen?“, „Vertraut sie mir?“. Dabei geht es um psychologische Faktoren sowie die Beziehungsebene und damit auch um Emotionen. Das ist enorm wichtig.

Die psychologische Ebene ist umso bedeutungsvoller, je unklarer die Zukunft ist. Die Zukunft ist immer weniger vorhersehbar und dennoch muss man handeln. Man kann nicht nicht handeln. Deshalb spielt Vertrauen eine so große Rolle bzw. die Notwendigkeit, einen Vertrauensvorschuss zu geben. Vertrauensvolle Beziehungen sind eine notwendige Antwort auf die steigende Komplexität.

Diese Schwierigkeit, Zukunft vorherzusagen, haben die meisten Unternehmen. Gleichzeitig sind diese immer noch sehr hierarchisch organisiert. Oben gibt es einen Vorstand, der eine Transformation lenken muss und von dem verlangt wird, Orientierung zu geben und den Mitarbeitenden Unsicherheiten in Zeiten des Wandels zu nehmen. Wie geht das, wenn die Vorstandsmitglieder selbst nicht wissen, wie die Zukunft aussieht?

Der Vorstand sollte einerseits Ängste und Unsicherheiten der Mitarbeitenden ernst nehmen und andererseits nicht so tun, als ob er alles wüsste. Es ist meines Erachtens völlig in Ordnung, wenn Vorgesetzte sagen, dass sie auch nicht wissen, wie es morgen aussehen wird. Und dennoch ist es ihre Aufgabe zu handeln und mit Alternativen zu arbeiten.

Es lohnt sich in der Regel, Betroffene zu beteiligen und ihnen den Raum zu geben, Dinge auszuprobieren. Dafür braucht man Leute, die dazu willens und fähig sind. Voraussetzung ist, dass die Mitarbeitenden merken, dass sie einen Vertrauensvorschuss kriegen. Das heißt nicht, dass sie im stillen Kämmerlein tun können, was sie wollen.

„Transparenz ist auch bei Veränderungen ein wesentliches Prinzip.“

Der oder die Vorgesetzte kann sich gegebenenfalls Sachen erläutern lassen oder helfen, Probleme zu lösen, wenn es nötig ist. Ein anderes wichtiges Prinzip ist Messbarkeit. Die Dinge, die durch das Handeln und Ausprobieren entstehen, müssen irgendwie messbar sein. Was nicht messbar ist, ist nicht führbar.

Sie haben immer wieder betont, dass es bei Veränderungen auch um Emotionsmanagement geht. Heißt das unter anderem, Emotionen von Mitarbeitenden zu steuern?

Für mich heißt es zunächst einmal, ein Bewusstsein für Emotionen zu haben. Alle haben sie. Das gilt beispielsweise sowohl für Mitarbeitende als auch für Kunden. Meiner Erfahrung nach haben allerdings viele Führungskräfte in Organisationen Hemmungen, sich damit auseinanderzusetzen. Vor allem weil es auch um die eigenen Emotionen geht. Emotionen werden zu oft weggedrückt, denn sich damit zu beschäftigen, hieße, eine gewisse Unvorhersehbarkeit zu akzeptieren. Man weiß nicht, was am Ende dabei herauskommt.

Herr Doppler, Sie sind nun so viele Jahre im Change- und Beratungs-Business. Wie schauen Sie auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre: Haben Manager und Managerinnen in den Unternehmen dazugelernt? Berücksichtigen sie stärker die psychologische Ebene, wenn es um das Gestalten von Veränderungen geht? Sehen Sie eine positive Entwicklung?

Die sehe ich schon. Vor 20 Jahren haben mir Führungskräfte noch in Workshops gesagt, dass sie sich mit Change nicht beschäftigen müssten. Das sei nicht notwendig. Man habe alles im Griff. Das ist heute anders. Das Bewusstsein, sich immer wieder an veränderte Rahmenbedingungen anpassen und entsprechend handeln zu müssen, ist mittlerweile weit verbreitet. Doch es gibt immer noch viele, die dabei zu sehr in Theorien behaftet bleiben. Ich sage stets: Schwimmen lernt man durch Schwimmen. Fangt an! Beobachtet dabei und lernt: Was passiert? Wie geht es euch damit? Was erreicht ihr damit? Wie erleben es die Kunden? Müssen wir Alternativen suchen, weil es nicht richtig funktioniert? Change ist ein Teil von Führung. Ohne Change gibt es keine gute und effektive Führung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

changement! Heft 09/2021

 

Interviewpartner

Dr. Klaus Doppler
ist Psychologe und arbeitet seit vielen Jahren branchenübergreifend als selbstständiger Organisations- und Managementberater. Er war lange Jahre Mitherausgeber der Fachzeitschrift „OrganisationsEntwicklung“, deren Mitgründer er ist. Klaus Doppler, geboren 1939, gilt im Bereich Change als einer der bekanntesten und profiliertesten Berater in Deutschland. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter unter anderem das mit Christoph Lauterburg herausgegebene Standardwerk „Change Management“, das 2019 in der 14. Auflage erschienen ist. 2020 hat er gemeinsam mit Luyanda Mpahlwa das Buch „Die Logik der Anderen“ veröffentlicht.
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Im Mai stellte Evonik Industries als eines der ersten großen deutschen Spezialchemieunternehmen sein ERP-System auf den neuen SAP-Standard S/4HAnA um. Ein Kraftakt, der technisch anspruchsvoll war und mehr als 15.000 Anwenderinnen und Anwender in über 40 Ländern betraf. Mit umfassenden Change-Management-Maßnahmen wurden die Mitarbeitenden darauf sorgfältig vorbereitet. Vali Maria Bluma thematisiert dies im Beitrag „Evonik: Change Management im IT-Projekt“.

Gründerin, Aufsichtsrätin, Buchautorin – die Digitalisierungsexpertin Fränzi Kühne ist für viele Frauen hierzulande ein Vorbild. Entscheidungen zu treffen, falle ihr in der Regel leicht, sagt sie. Aber nach zwölf Jahren die Agentur zu verlassen, die sie mit aufgebaut hat, war dann doch schwieriger als gedacht. Ein Gespräch über das Entscheiden, das Vertrauen auf die eigene Intuition, die richtige Führungskultur und warum Deutschland eine Frauenquote braucht.

Frau Kühne, würden Sie sagen, Sie sind jemand, dem Entscheidungen grundsätzlich eher leichtfallen?

Ja, absolut. Ich liebe es, Entscheidungen zu treffen. Und ich mag es, sie relativ schnell zu treffen.

Gilt das auch für große Entscheidungen?

Eigentlich schon. Aber die größte geschäftliche Entscheidung, die ich in meinem Leben bisher getroffen habe, war die, TLGG zu verlassen. Und dabei habe ich ungewöhnlich lange gebraucht. Das hat mich schon irritiert. Ich war lange unsicher. Deshalb habe ich eine Coachin dazugenommen.

Und wie konnte die Coachin Ihnen helfen?

Sie hat vor allem Fragen gestellt und einige Übungen mit mir gemacht. Und am Ende der Session fühlte ich, dass es die richtige Entscheidung ist, TLGG hinter mir zu lassen. Ich war erleichtert.

„Das war das, was noch gefehlt hatte: die richtige Entscheidung zu fühlen.“

Man kann mit dem Kopf an eine Sache herangehen, alle Fakten auf den Tisch legen, doch letztlich muss die Intuition stimmen. Wenn ich in der Vergangenheit bei TLGG Entscheidungen getroffen habe, zu denen mein Bauchgefühl eigentlich nicht passte, entpuppten sich diese Entscheidungen im Nachhinein oft als teure Fehler.

Sie sind also jemand, der stark der eigenen Intuition vertraut?

Ja. Mein Bauchgefühl muss zu der Entscheidung stimmen. Natürlich müssen relevante Daten, Fakten und sachliche Informationen bekannt sein. Die sind jedoch meistens schnell zusammengetragen. Auf dieser Basis ist es dann die Intuition, die den Ausschlag gibt.

Sie haben TLGG mitgegründet. Die Agentur war zwölf Jahre Ihre berufliche Heimat. Im vergangenen Jahr sind Sie rausgegangen. Was war es genau, das die Entscheidung so schwierig gemacht hat?

Es war schwer, weil TLGG sozusagen „mein erstes Baby“ war. Dort rauszugehen, erzeugte in mir ein komisches Gefühl im Sinne von „Ich lasse die Firma im Stich“. Andererseits wusste ich, dass es der richtige Zeitpunkt ist. Und mir war klar, dass es andere Menschen im Unternehmen gibt, die besser geeignet sind als ich, die TLGG-Vision umzusetzen.

Was mir die Entscheidung ebenfalls schwer gemacht hat, war die Befürchtung, die gute und enge Beziehung zu meinem Gründungspartner Christoph Bornschein aufs Spiel zu setzen. Er ist quasi Familie und ich hatte Angst, wenn ich aus TLGG rausgehe, dass dann auch die Freundschaft kaputtgeht.

„Erst im Coaching-Prozess habe ich verstanden, dass ich nicht wissen muss, was nach meiner Entscheidung passieren wird.“

Denn das hatte ich immer angenommen: Wenn ich gehe, dann muss doch klar sein, was direkt danach kommt. Doch es ist völlig in Ordnung, es nicht zu wissen, keine Kontrolle zu haben. Es ist ja eigentlich auch nicht möglich. Denn die Zukunft können wir nicht vorhersagen. Was tatsächlich sein wird, wissen wir erst, wenn wir in der Situation sind.

Dinge erst einmal auf sich zukommen zu lassen, sich in unbekannte Gebiete zu wagen, aus der Komfortzone rauszugehen, das alles gehört mit dazu. Das muss man sich bewusst machen und man muss es wollen.

Und es kam schließlich auch anders als gedacht. Ich wollte ursprünglich eine Weltreise machen, doch einen Monat nach meiner Kündigung war plötzlich Corona das große Thema.

Damit mussten Sie sich arrangieren.

Genau, dann habe ich mich entschlossen, das Buch zu schreiben. Und es wurde ein Bestseller. Und jetzt gucken wir mal, ob das mit der Weltreise noch klappt. Wir wollen die Zeit gut nutzen, bis dann meine älteste Tochter nächstes Jahr in die Schule kommt.

Bezüglich Ihres Vorhabens, das Kapitel TLGG abzuschließen, haben Sie eine Coachin einbezogen. Haben Sie darüber hinaus noch andere Methoden oder Techniken genutzt, um zu einer guten Entscheidung zu kommen? Haben Sie zum Beispiel eine Liste aufgesetzt, die die Vor- und Nachteile gegenüberstellt?

Klar, diese Dinge, die man für sich allein machen kann, habe ich gemacht. Man stößt aber damit irgendwann an Grenzen.

Was man ebenfalls nicht unterschätzen darf, ist der Druck von außen. Den gab es auch bei mir aus meinem näheren Umfeld, von Menschen, die sich Sorgen machen: „Was willst Du denn dann machen?“, „Das musst du doch jetzt schon wissen!“, „Du kannst nicht einfach nichts machen!“ Und ich dachte: Doch, ich kann einfach nichts machen. Das ist auch mal ganz schön.

Diesem Druck muss man sich stellen. Zu sagen, „ich mache das, was ich für richtig halte“, kann man nur, wenn man fühlt, dass es die richtige Entscheidung ist. Da hat mir das Coaching geholfen, selbstbewusst meinem Gefühl zu trauen und dafür einzustehen.

Wenn man sich Ihren Lebenslauf anschaut, kann man sehen, dass es schon vor der TLGGZeit die eine oder andere schwierige Entscheidung gab. Sie haben zwei Studiengänge angefangen und beide abgebrochen. Der erste war Lebensmitteltechnologie …

(Lacht) Sie sind gut informiert. Lebensmitteltechnologie habe ich direkt nach dem Abitur angefangen. Da brauchte man keinen NC und es klang gut. Aber schon nach drei Wochen habe ich festgestellt, dass das keine gute Entscheidung war. Mathe, Physik, Chemie – alle Fächer, die ich in der Schule gehasst hatte – spielten in dem Studium eine wichtige Rolle. Ich habe es dann schnell abgebrochen und begonnen zu arbeiten.

Mein zweites Studium Jura habe ich auch aus einer gewissen naiven Vorstellung heraus gewählt. Ich glaubte, ein gewisses Talent für Kriminologie zu haben. Ehrlicherweise habe ich auch diese Entscheidung ohne große Überlegungen getroffen, nach dem Motto: Ich bin jung, was soll mir großartig passieren?

„Eine solche Leichtigkeit wünsche ich mir manchmal zurück.“

Besonders, wenn es im Leben komplizierter wird, mehr Abhängigkeiten da sind und man mehr Verantwortung hat.

Es kann durchaus hilfreich sein, sich in schwierigen Situationen einmal bewusst zu machen, wie man ohne die diversen Verpflichtungen entscheiden würde.

Sie hatten vor TLGG keine Business-Erfahrung. Auch Jura gilt nicht als typischer Studiengang von Start-up-Gründern. Wie schwierig war die Entscheidung, Ihr Jura-Studium abzubrechen und ein Unternehmen zu gründen?

Ich wollte nie Gründerin werden und selbstständig arbeiten. Mein Ziel war eigentlich, zum BKA zu gehen und Kriminalkommissarin zu werden. Ich habe dann während des Studiums Christoph Bornschein kennengelernt, der hat damals bei einem Online-Gaming-Unternehmen gearbeitet. Da bin ich schließlich auch mit reingegangen. Es war die Zeit, als in Deutschland Facebook und Twitter aufkamen. Wir waren uns sicher, dass das nur der Anfang ist, weshalb wir den Entschluss trafen, eine Social-Media-Agentur zu gründen. Das war keine bewusste Entscheidung im Sinne von „Jetzt werde ich Gründerin“. Zu Beginn fühlte sich das eher an wie Agentur spielen. Das merkt man auch an dem albernen Namen. TLGG steht für „Torben, Lucie und die gelbe Gefahr“.

Wir hatten es damals auf nichts Großes ausgelegt, sondern es fühlte sich richtig an, weil es unglaublich viel Spaß machte. Es war kein großes Risiko dabei für mich. Wenn es nichts geworden wäre, hätte ich weiter Jura studiert.

Wurden wichtige strategische Entscheidungen bei TLGG im Gründungsteam immer gemeinsam getroffen?

Ja, die großen Entscheidungen wurden immer zusammen im Gründungsteam getroffen. Wir hatten lange Zeit quartalsweise Geschäftsführungsrunden, bei denen wir drei Gründer einen Tag zusammenkamen, um die wichtigen Entscheidungen durchzuspielen. Bei jedem Treffen war auch ein Coach dabei, der uns beratend begleitet hat und beispielsweise durch gezielte Fragen dafür sorgte, dass wir alle relevanten Aspekte bei unseren Entscheidungen berücksichtigen.

Mitarbeitende wünschen sich von ihren Führungskräften häufig klare Entscheidungen und Orientierung. Ist das etwas, das Sie lernen mussten mit der Zeit?

Ich denke, ich musste das nicht wirklich lernen. Wenn es etwas Großes zu entscheiden gab, waren wir im Gründungsteam vorher abgestimmt. Und bei allen anderen Entscheidungen habe ich mich immer bemüht, möglichst klar zu sein.

„Die Herausforderung ist ja, Menschen zu befähigen, nicht darauf zu warten, bis die Führungskraft eine Entscheidung trifft.“

Sondern selbstständig zu entscheiden und möglichst eigenverantwortlich zu arbeiten. Dafür braucht es natürlich den nötigen Raum bzw. müssen Leitplanken definiert werden, die Orientierung und Klarheit in Bezug auf ein selbst organisiertes Arbeiten geben.

Manche Entscheidung einer Geschäftsführung hat eine enorme Tragweite. Es geht manchmal um viel Geld, hohe Investitionen, die Zukunft des Unternehmens und/oder berufliche Schicksale von Mitarbeitenden. Kann das Angst machen, wenn einem bewusst ist, welche Konsequenzen eine Entscheidung haben kann?

Mein Trick ist gewesen, die Tragweite und mögliche Konsequenzen der Entscheidung ein Stück weit auszublenden bzw. das nicht zu nah an mich herankommen zu lassen. Wenn ich zum Beispiel mit einer bestimmten Preisvorstellung in Verhandlungen reingegangen bin, dann war ich vollkommen fokussiert und habe versucht, das Beste für das eigene Unternehmen herauszuholen und nicht zu viel darüber nachzudenken, was passiert, wenn der Deal nicht klappt. Es ist in vielen Fällen gar nicht so gut, sich über etwas Gedanken zu machen, das noch gar nicht eingetreten ist.

Gab es im beruflichen Kontext gar keine Entscheidung, die Sie im Nachhinein bereut haben?

Ich habe im Nachhinein nie groß mit einer Entscheidung gehadert.

Auch nicht, wenn Sie richtig Geld versenkt haben?

Nein. Dann ist das ein Fehler, aus dem man lernt. Mich im Nachhinein über etwas aufzuregen, was vorbei ist, ist glücklicherweise gar nicht in meiner Persönlichkeit angelegt. Das bringt auch nichts.

„Ich versuche stets, zukunftsgewandt zu denken.“

Sie beraten seit vielen Jahren Unternehmen in Digitalisierungsfragen. Was hat die Digitalisierung mit Entscheidungsstärke zu tun? Ist die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen, ein möglicher Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation?

Es geht auf jeden Fall um Schnelligkeit. Alle reden vom agilen Arbeiten – das ist sicherlich ein Teil davon. Was allerdings ebenso eine große Rolle spielt, ist das Thema Kulturwandel. Um einen Weg zu gehen, den man vorher noch nie gegangen ist, braucht man eine Kultur des Scheiterns. Scheitern muss erlaubt sein, sodass Dinge auch einfach mal ausprobiert werden und um überhaupt die richtige Lösung finden zu können.

Die großen Entscheidungen in einem Unternehmen müssen sicherlich top-down getroffen werden. Aber ansonsten gehört zu einem eigenverantwortlichen
Arbeiten der Mitarbeitenden die Möglichkeit, Fehler zu machen und daraus zu lernen.

Sie sagen, dass die großen Entscheidungen oben getroffen werden müssen. Beobachten Sie dennoch, dass im Vorfeld von Entscheidungen die Mitarbeitenden stärker einbezogen werden als früher? Werden deren Perspektiven und Meinungen mehr gehört?

Ja, das ist so, vor allem auch deswegen, weil der Druck der Mitarbeitenden diesbezüglich größer geworden ist. Sie wollen mehr mitreden. Was sich ebenfalls stark verändert hat im Vergleich zu früheren Jahren, ist, dass das Thema Purpose für die Beschäftigten mehr Bedeutung hat. Die Frage „Warum arbeite ich in einem Unternehmen?“ wird für die Menschen immer wichtiger. Sie wollen wissen, warum sie etwas tun. Sie wollen etwas beitragen, das sinnvoll ist. Deshalb:

„Die Vision eines Unternehmens muss sehr klar sein.“

Und es muss deutlich werden, welchen Impact das Unternehmen und jeder Einzelne bei der täglichen Arbeit haben.

Sie haben kürzlich das Buch mit dem Titel „Was Männer nie gefragt werden“ veröffentlicht. Sie beschäftigen sich immer wieder mit Themen wie „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, Diversity, Chancengleichheit. Vor welchen Entscheidungen stehen Frauen in Deutschland, wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, vor denen Männer nicht in gleichem Maße stehen?

In meinen Interviews habe ich festgestellt, dass hinter jedem erfolgreichen Mann – der Familie hat – eine Frau steht, die das ganze Familienleben und den Haushalt managt. Er hat damit in der Regel relativ wenig zu tun. Auch wenn man ehrlicherweise sagen muss, dass es in der jüngeren Generation immer mehr Väter gibt, die sich stärker für die Familie verantwortlich fühlen.

Das grundlegende Problem ist aber dennoch, dass das gesamte Karrieresystem von Männern für Männer gebaut ist. Der stets verfügbare Mann hat die besten Chancen, Karriere zu machen.

Während die Frau im Bewerbungsgespräch immer noch zu häufig Fragen zu ihrem „anderen zu verwaltenden Projekt“ Familie beantworten muss. Und sie ist es ja auch meistens, die sich im Alltag vor allem um die Familie kümmert.

Was ist Ihr Wunsch? Dass die Männer sich stärker für die Familie verantwortlich fühlen? Oder ist der Hebel zu einer besseren Vereinbarkeit vor allem bei den Firmen zu suchen?

Es ist ein Sowohl-als-auch. Unternehmen müssen individuelle Konzepte entwickeln, um vieles möglich zu machen in Bezug auf die Vereinbarkeit. Dabei darf aber die Zielgruppe der Väter nicht vergessen werden. Beispielsweise könnte es einen Bonus geben, wenn Vätermonate in der Elternzeit genommen werden. Gleichzeitig ist natürlich die Gesellschaft gefordert. Rollenbilder entwickeln sich. Mehr und mehr sehen es als Selbstverständlichkeit an, dass die Verantwortung in den Familien gleich verteilt ist. Bei TLGG konnte ich diese positive Entwicklung sehen. Eine Menge junge Väter haben nicht nur die üblichen zwei Monate Elternzeit genommen, sondern zunehmend auch mal ein halbes Jahr oder länger.

Sie sind aber dennoch Befürworterin einer Frauenquote?

Ja, leider. Ich finde die Quote eigentlich furchtbar, weil ich will, dass Leistung sich durchsetzt. Dennoch ist die Quote als eine Art Krücke notwendig. Das ist mir klar geworden, als ich außerhalb meiner Agentur-Welt – vor allem in meiner Rolle als Aufsichtsrätin – mit anderen Realitäten und Arbeitswelten konfrontiert wurde. Es ist immer noch keine Selbstverständlichkeit, dass Frauen mit guter Leistung weiterkommen.

„Frauen haben zu oft das Nachsehen gegenüber Männern, die von den Vorgesetzten bevorzugt werden, weil sie an derselben Stelle lachen wie der Chef.“

Sie ticken eben ähnlich, sind berechenbar.

Welche große berufliche Entscheidung steht demnächst bei Ihnen persönlich an? Werden Sie eine neue Firma gründen?

Vielleicht. Vielleicht werde ich mich auch anstellen lassen. Ich habe noch keine konkrete Vorstellung von meiner weiteren beruflichen Zukunft. In keinem Fall aber gehe ich in die Politik.

Ist die Rückkehr zu TLGG eine Option?

Auf keinen Fall. Die Entscheidung, TLGG zu verlassen, habe ich mir so gut überlegt, dass ich es noch keinen Tag bereut habe.

Und wann werden Sie wissen, was der nächste berufliche Schritt ist?

Wenn es sich gut anfühlt. Wenn mein Bauch sagt:
„Juchhe, ich habe Bock drauf!“

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 09/2021

 

Interviewpartnerin

Fränzi Kühne
ist Mitgründerin und ehemalige Geschäftsführerin der TLGG GmbH, einer Agentur für das digitale Business. Sie ist außerdem Speakerin und Autorin sowie Aufsichtsrätin. Seit 2017 hat sie mehrere Mandate inne, so etwa bei der Freenet AG und bei der Württembergische Versicherung AG. Sie berät Führungskräfte, Geschäftsführungen, Gründerinnen und Gründer aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik zu Digitalisierungsfragen. Fränzi Kühne engagiert sich außerdem seit Jahren für mehr Frauen in Führungspositionen und treibt die dafür notwendige Veränderung von Organisations- und Arbeitskultur voran. Vor Kurzem erschien ihr Buch „Was Männer nie gefragt werden“. In diesem stellt sie prominenten Männern Fragen, mit denen sonst nur Frauen konfrontiert werden.
»Fränzi bei Linkedin

In der Digitalisierung und damit auch in der Ökosystemarbeit ist Konnektivität ein tragender Pfeiler, um Prozesse zu optimieren und neue Produkte zu entwickeln. Vodafone möchte diesen Pfeiler mit 5G unterstützen und die Zukunft aktiv in verschiedenen Themen-Ökosystemen gestalten. CEO Hannes Ametsreiter spricht im Interview über die richtige Motivation im Team und Risikobereitschaft als Erfolgsfaktor für die Zukunft.

Was ist für Sie ein Business-Ökosystem, sowohl im Vodafone-Kontext als auch ganz allgemein?

Ein Business-Ökosystem ist für mich ein Flywheel aus Werten und Nutzen schaffenden Kooperationen von Firmen und Kunden. Warum sehe ich das so? Weil das Schwungrad die nutzenorientierte Dynamik zeigt, die entstehen soll. Dabei kann der Nutzen für den Kunden, aber auch für die teilnehmenden Firmen entstehen. Und das ist für mich die Kraft eines Ökosystems. Das heißt, wir gehen raus aus der monolithischen Struktur der Vergangenheit, die für sich alleine stand, hin zu Kooperationen. Das Thema Kooperation ist ein ganz, ganz wichtiger Aspekt. Das Thema Konnektivität ist ein weiterer. Man muss Personen, Menschen und Firmen zusammenbringen und ein gemeinsames Ziel, einen Purpose definieren.

Der Flywheel-Gedanke ist gut. Da gibt es in der akademischen Literatur weitaus kompliziertere Definitionen. Welche Rolle spielt das, was Sie uns geschildert haben, diese Flywheels und Netzwerke bei Vodafone?

Ich bin ein Marketing-Mensch und denke daher viel in Bildern. Netzwerke haben eine große Bedeutung, die in Zukunft noch zunehmen wird. Das Thema Kooperationen ist klar erkannt von uns. Wir gestalten die Zukunft nicht, indem wir einfach nur Infrastrukturen schaffen. Wir gestalten die Zukunft, indem wir mit vielen Partnern kooperieren. Das machen wir durch Kooperationen mit Start-ups und ich bin ein begeisterter Start-up-Fan. Wir haben einen eigenen Accelerator, um innovativer zu werden. Mit diesen – meistens kleinen – Firmen beginnen wir dann, die Zukunft zu gestalten. Sie erkennen Dinge oft vor allen anderen. Und sie sind agiler im Adressieren von Bedürfnissen. Von daher: Kooperationen in dem Bereich, aber eben auch mit etablierten Partnern. Auch hier entstehen ganz neue Möglichkeiten, wenn man mit großen Partnern wie beispielsweise Siemens, BMW, Bosch oder anderen zusammenarbeitet. Denn die Grenzen beginnen zu verschwimmen. Diese Konvergenz der Services, diese Konvergenz der Möglichkeiten werden zuallererst – und das ist unsere Rolle – durch Konnektivität möglich gemacht.

Ein eigenes Beispiel ist unsere Kooperation mit 5G Standalone und Porsche. Für den Autobauer haben wir ein 60 Hektar großes Testgelände in Weissach in der Nähe von Stuttgart mit 5G vernetzt und dort ein extrem schnell reagierendes Netz installiert. Früher hat Porsche einen Testwagen um die Strecke geschickt, damit der seine Kilometer abspult. Dann wurde gemessen: der Wagen fuhr in die Box und ein Ingenieur schloss seinen Laptop an, um sich die Daten zur Analyse zu ziehen. Mit unserem 5G-Netz fährt das Auto jetzt einfach dabei weiter. Man zieht die Daten, obwohl das Auto mit 240 km/h unterwegs ist, analysiert sie und spielt die nächste Testsequenz direkt retour ins Auto. Das heißt, sie sparen diese Stillstandzeit und können dadurch viel effizienter an die Testergebnisse kommen. Das nenne ich Flywheel, weil es so viel effizienter ist und einen Quantensprung darstellt. Das vor Ort in der Blockchain abzulegen, ist auch kein Problem. Solche Möglichkeiten wurden komplett neu geschaffen und entstehen nur aus Kooperationen. Wir können das alleine nicht machen; Porsche kann das alleine nicht machen. Daher schafft diese Art von Kooperationen wirklich grenzüberschreitende, mind-blowing Aspekte, die es vorher nicht gegeben hat. Wir erwarten eine große Dynamik bei solchen Flywheels in allen möglichen Industrien und Bereichen und möchten diese mit Partnern gemeinsam entwickeln und aufgleisen. Das bedarf neuer Kapazitäten und Fertigkeiten, weil es immer mit Kommunikation beginnt – also mit der Vorstellung der Möglichkeiten, mit Hypothesen, die man aufstellt, und dann auch mit dem Mut, dieses Risiko zu nehmen.

Wie machen Sie das? Wie überzeugen Sie sowohl Ihr Management-Team als auch Ihre Mitarbeiter, diese Wege zu gehen?

Es ist eine Einstellungssache. We have nothing to lose but our future.

Was heißt das konkret?

Wenn wir nichts riskieren, verlieren wir die Zukunft. Und das wollen wir nicht. Von daher wagen wir etwas. Das Risiko muss abwägbar sein, es muss einschätzbar sein. Aber wenn es das ist, dann nehmen wir es. Das ist dieser unternehmerische Geist, der Deutschland wahrscheinlich mal ausgezeichnet hat, als beispielsweise Siemens, BASF oder andere
Unternehmen gegründet wurden. Davon brauchen wir mehr. Wir werden die Zukunft nicht erfolgreich gestalten, wenn wir immer nur das Risiko sehen, wenn wir alles bürokratisieren und zu Tode testen. Das wird nicht Zukunft schaffen.

Es braucht unternehmerischen Mut, es braucht den Mut zum Risiko. Und es braucht entscheidungsstarke Menschen, die sagen: Wir glauben dran. Wenn Führungskräfte dann eine Vision formulieren und die entsprechenden Bilder erzeugen können und ein Gefühl für diese potenzielle Welt, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Sie sagten ja, es ist wichtig, Visionen klar zu formulieren und Bilder beim Team zu erzeugen, um sie für das Projekt zu begeistern. Wie funktioniert das bei komplexeren Themen, in denen viel Unsicherheit aufkommen kann?

Eigentlich geht das sehr einfach. Man braucht das richtige Team, welches in der Lage ist, das auch nachzuvollziehen. Und es braucht immer die Analytik, um die Ratio abzuleiten und die Fakten für die Entscheidung darzulegen. Und man muss natürlich dann auch bereit sein, ein Risiko zu nehmen. Menschen, die bereit sind, ihren Job zu riskieren, die
sagen: „But we do it“, haben noch am meisten die Zukunft gestaltet. So wie Elon Musk. Warum? Weil wir über Jahrhunderte gelernt haben: Es braucht dieses unternehmerische Risiko. Wenn man immer nur den gleichen Weg geht, wie Millionen von Menschen vor einem, wird man immer am gleichen Punkt wieder rauskommen. Wenn man aber bereit ist, im Tiefschnee den Berg hinaufzustapfen, dann hat man auch die Chance, einen unverspurten Berg vorzufinden. Es braucht diese gewisse Radikalität, um hier voranzukommen.

Zudem muss auch der Vorstand innovationsverliebt sein und das auch vorleben. Dabei ist „Walk the talk“ entscheidend. Denn alle kriegen mit, ob man Innovationen unterstützt oder ob das nur Lippenbekenntnisse sind. Der andere Aspekt ist, den Mitarbeitern Freiheiten zu geben. Nicht alles muss sofort in ordnerdicken Verträgen abgesichert werden. Ich agiere lieber nach dem Motto: „Lass uns mal eine Kooperation starten. Lass uns ein paar Eckpunkte auf einem Bierdeckel festhalten und dann machen wir das.“ Man weiß ja nicht, wo man rauskommt. Besonders hier in Deutschland ist das ein neues Denken, was die Software-Welt ja schon lange macht: AB-Testing. Und wenn man dann sieht: Okay, das Flywheel dreht sich, und das wird groß – dann kann man immer noch dafür sorgen, dass hier beide Partner profitieren. Denn Einseitigkeit ruiniert den Prozess. Und damit auch das Produkt und die Verdienstmöglichkeiten.

Partnerschaft heißt, dass beide Partner, oder eben auch alle Partner, davon profitieren. Nur dann kann das lange funktionieren.

Wenn wir jetzt noch mal die Themenfelder betrachten: In welchen Themenfeldern werden Ökosysteme besonders relevant werden? Welche „Flywheels“ werden sich aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren besonders erfolgreich drehen?

Ganz klar 5G. Das ist einer der faszinierendsten, besten und wahrscheinlich größten Bereiche. 5G ist in erster Linie ein Industrienetz. Seine Funktionalitäten ermöglichen die Produktion 2.0. Als Beispiel: Der CEO von Hilti hat mir erzählt, er wolle in der Zukunft keine Bohrmaschine mehr verkaufen; er wolle Bohrleistung verkaufen. Und das ist genau das, was die Herausforderung für unsere Industrie in Deutschland sein wird. Wie schafft man es, vom Produkt zum Service zu kommen? Das Gleiche wird auch das Auto betreffen. Auto-Abos gibt es heute schon und wird es in Zukunft noch mehr geben. Einfach die Möglichkeit, eine Leistung wie Mobilität über das Handy abzurufen, wann und wo auch immer ich bin. Mit 5G-Konnektivität geht das sogar noch weiter: Wenn ein Auto zu einem fahrenden Arbeits- bzw. Wohnzimmer wird, wo man zum Beispiel entweder wie im Homeoffice arbeiten oder auch Entertainment wie Netflix-Filme nutzen kann, dann werden wir diesen Wandel von Produkt zu Service noch deutlicher sehen. Wir können zudem durch Ökosysteme und die entsprechende Vernetzung den CO2-Ausstoß reduzieren, wir können Services besser nutzbar machen und auch demokratisieren. In vielen Bereichen wird das möglich sein. Denn was technisch möglich ist, wird gemacht. Mit all den Konsequenzen. Die sind nicht immer nur positiv, sondern manchmal auch schwierig. Aber es wird stattfinden.

Welche Rolle spielt Vodafone dabei?

Das hängt von den Projekten und ihren Möglichkeiten ab. Manchmal sorgen wir für Konnektivität, manchmal bieten wir zum Beispiel auch Cloud-Services an oder wir liefern die Software für das Internet der Dinge.

Was sind da so die typischen Challenges, auf die man sich gefasst machen muss?

Kooperationen aufzubauen, ist meistens eine Herausforderung, denn dazu müssen die eigenen und die Vorstellungen der Partner unter ein Dach gebracht werden. Manche Lösungen müssen erst entwickelt oder Daten können nicht uneingeschränkt genutzt werden, das sind oft weitere Herausforderungen. Es gibt Millionen von Einschränkungen. Diese Einschränkungen definieren dann das, was rauskommt.

Wo sehen Sie die Rolle von Vodafone und die Arbeit im Ökosystem bezogen auf eine ökologische Transformation und Nachhaltigkeit?

Es spielt eine enorm große Rolle. Für uns ist Nachhaltigkeit eines der wichtigsten Themen überhaupt. Warum? Weil Klimawandel wahrscheinlich die größte Herausforderung für die Menschheit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein wird. Wir setzen unsere Technologie immer stärker ein, um CO2-Emissionen zu senken.

Wir unterstützen z. B. Bienen. Das mutet jetzt vielleicht eigenartig an, aber das Bestäuben durch die Bienen ist extrem wichtig für den Erhalt der Biodiversität. Und daher haben wir Imker darin unterstützt, insgesamt 18 Bienenvölker zu züchten. Auch am Dach unserer Unternehmenszentrale in Düsseldorf haben wir mehrere Bienenstöcke aufgestellt. Da leben also Bienen und produzieren Honig. Den Honig geben wir unseren Mitarbeitern. Die Bienenstöcke sind über SIM-Karten mit dem Internet der Dinge vernetzt und das Ganze wird via Video verfolgt. So wird analysiert, von welchen Pflanzen die Bienen die Pollen beziehen. So lassen sich Rückschlüsse auf die Biodiversität der Umgebung ziehen. Und da wiederum kooperieren wir mit Wissenschaftlern, die das Ganze auswerten. Damit helfen wir einem Ökosystem, das in einer Schnittstelle aus Tierwelt, Umwelt und Mensch angesetzt ist.

Was wäre, wenn wir jetzt in drei Jahren noch mal sprechen, 2024? Was hat sich geändert?

Alle Bereiche werden durchdrungen. Und zwar in einer Heftigkeit, wie wir es noch nie erlebt haben. Das, was die Dampfmaschine im Industriezeitalter war, wird jetzt das goldene Dreieck aus Connectivity, Sensoren und Artificial Intelligence. Das wird das Sprungbrett für exponentielle Entwicklungen in der Zukunft sein. Das wird uns zu Entwicklungen führen, die wir uns heute noch gar nicht ausmalen können. Und genau das macht es so spannend. Keiner weiß, was in den nächsten drei oder sechs Jahren sein wird. Ich weiß nur eines: Die Geschwindigkeit wird unfassbar hoch sein. Und es wird uns an unsere Grenzen bringen.

Da braucht es Optimismus. Da braucht es Humanismus – ein „Sich-ganzheitlich-am-Menschen-und-seinen-Bedürfnissen-Orientieren“. Und da braucht es auch den Glauben an die Zukunft und die Vision. Je stärker die Vision, umso eher wird sie Realität.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Julian Kawohl.

 

changement! Heft 08/2021

 

Interviewpartner

Dr. Hannes Ametsreiter
ist ein renommierter Telekommunikationsmanager mit über 20-jähriger Telekommunikationserfahrung in konvergenten Märkten und herausragender Expertise in Marketing und Markenführung. So hat er die Positionierung von Vodafone als Gigabit-Company geprägt und das Unternehmen durch die weitere Integration von Mobilfunk, Festnetz, Internet und TV sowie attraktive Produkte und immer höhere Geschwindigkeiten wieder zurück auf Wachstumskurs gebracht. Vor seinem Einstieg bei Vodafone war er sechs Jahre Vorstandsvorsitzender und Group CEO der Telekom Austria Group (die in acht Ländern agiert) sowie CEO der A1 Telekom, die aus dem Zusammenschluss der Mobilkom Austria AG und der Telekom Austria TA AG entstanden ist. Er verfügt zudem über langjährige Kapitalmarkterfahrung. Zum Profil von Dr. Hannes Ametsreiter auf LinkedIn.

Der Begriff der emotionalen Intelligenz ist in der modernen Arbeitswelt populär. Vor allem Führungskräfte sollten heute emotional intelligent sein, wenn sie Karriere machen wollen, heißt es häufig. Die Wissenschaftlerin Myriam Bechtoldt hat einen differenzierten Blick darauf. Im Gespräch erklärt sie, was sich hinter dem Begriff verbirgt und was leistungsstarke Führungskräfte in der Regel besonders auszeichnet.

Frau Bechtoldt, was ist eigentlich emotionale Intelligenz?

Emotionale Intelligenz ist ein Konstrukt, das insbesondere mit dem Erscheinen des Bestsellers „Emotionale Intelligenz“ von Daniel Goleman Mitte der 90er-Jahre schlagartig an Popularität gewonnen hat. Eine Behauptung von ihm, mit der er häufig zitiert wurde, lautet: „Menschen mit hohem IQ werden eingestellt, aber die Menschen mit hohem EQ werden befördert.“

Nach Daniel Goleman ist emotionale Intelligenz ein bunter Strauß an Fähigkeiten und Eigenschaften. Dazu gehören unter anderem: die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren, auch in frustrierenden Situationen am Ball zu bleiben; seine Impulse zu kontrol lieren und Belohnungen aufschieben zu können; fähig zu sein, seine Stimmungen zu regulieren; sich nicht von Stress überwältigen zu lassen sowie empathisch und hoffnungsvoll zu bleiben.

Sie sehen: Es ist eine ganze Menge, die laut Goleman zu emotionaler Intelligenz gehört. Goleman ist kein Wissenschaftler. Was er im Wesentlichen gemacht hat, war, existierende Literatur zusammenzufassen und dem Ganzen ein neues Emblem zu geben. Mit vielem davon beschäftigte sich die akademische Psychologie aber schon mehrere Jahrzehnte.

Was ist vor allem das Problem mit Golemans Begriff, außer dass er alten Wein in neuen Schläuchen verkauft hat?

Das Problem mit seiner Definition besteht vor allem darin, dass er Dispositionen mit Fähigkeiten verwechselt. Zum Beispiel sagt er, dass man hoffnungsvoll bleiben können sollte. Damit spricht er eine Disposition wie Optimismus an. So etwas würde man in der Regel mit Fragebögen erfassen, man fragt nach dem typischen Erleben und Verhalten. Dabei gibt es keine richtige oder falsche Antwort. Es geht um die persönliche Selbsteinschätzung. Die zu befragende Person entscheidet dabei allein, welche Wahrheit sie von sich preisgibt. Das ist anders als beispielsweise bei Leistungstests, mit denen die kognitive Intelligenz gemessen wird.

Das heißt, man kann emotionale Intelligenz nicht messen?

Doch, man tut es nur nicht, wenn man die Definition von Goleman verwendet, die eben nicht valide ist. Die wissenschaftliche Definition ist eine andere, und sie ist enger. Danach umfasst emotionale Intelligenz die Fähigkeit, eigene und andere Emotionen zu erkennen, zu verstehen und sie zielgerichtet zu verwenden, um eigenes Verhalten zu steuern, aber auch das Verhalten der anderen.

Das heißt, es gibt drei wesentliche Komponenten: Erstens Emotionserkennung. Damit ist immer die nonverbal kommunizierte Emotion gemeint, die zum Beispiel über den Gesichtsausdruck, den Tonfall oder unsere Körperhaltung transportiert wird.

Die zweite Komponente ist emotionales Verständnis, das ganz viel mit Wissen über Emotion zu tun hat. Wissen Sie zum Beispiel, dass Überraschung eine komplexe Emotion ist, die aus zwei Grundemotionen besteht, nämlich Freude, aber auch ein wenig Angst? Oder wissen Sie, welche Umstände dazu führen, dass ein Gefühl wie Frustration ausgelöst wird?

Und was ist die dritte Komponente?

Das ist die Emotionsregulation, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen Menschen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir an, Sie sind eine Führungskraft, die mit dem Team ein Meeting hat, und es sollen Ideen zu einem Thema gebrainstormt werden. Es herrscht aber aus irgendwelchen Gründen im Raum eine schlechte Stimmung. Zunächst wäre die Frage: Nehmen Sie wahr, dass die Stimmung, die in dem Raum besteht, nicht die passende ist, um kreative Ideen zu sammeln? Und zweitens: Sind Sie in der Lage, die Stimmung so zu verändern, dass eine kreative Ideen-Session stattfinden kann?

Ist das nicht übergriffig? Die Menschen haben eine Emotion, aber ich als Führungskraft möchte, dass sie eine andere haben, also betreibe ich Emotionsregulation.

Durchaus. Man kann diese zum Wohle seiner Mitmenschen einsetzen, beispielsweise um ihre Stimmung zu heben, damit es ihnen besser geht. Man kann sie aber auch für den eigenen Vorteil nutzen. Emotionale Intelligenz ist wie ein Messer: Sie können damit Brot schneiden oder jemandem ins Herz stechen. Das hängt von ihrer Motivation ab, und welche Absicht Sie verfolgen.

Sind kognitiv intelligente Menschen immer auch emotional intelligent? Oder sind sie es im Gegenteil meistens eher nicht?

„Zur Intelligenz gehört eine ganze Reihe von Faktoren.“

Wie zum Beispiel logisches Denken oder verbales Verständnis, aber eben auch die emotionale Intelligenz, und die besteht aus den drei Elementen, die ich genannt habe. Emotionale Intelligenz umfasst sozusagen allgemeine Intelligenz angewandt auf emotionale Sachverhalte. Sie ist zwar etwas anderes als die Fähigkeit, Matheaufgaben zu lösen, aber sie hat ebenso mit der Leistungsfähigkeit des Gehirns zu tun. Deshalb korreliert emotionale Intelligenz positiv mit anderen Faktoren der Intelligenz – auch wenn der Zusammenhang nicht sehr stark ist. Dieses Bild vom Computer-Nerd, der gut programmieren kann, jedoch emotional zurückgeblieben ist, ist nicht repräsentativ, im Gegenteil. Kognitiv intelligente Menschen haben gute Voraussetzungen, auch emotionale Intelligenz zu zeigen. Manche haben aber vielleicht einfach kein Interesse daran.

Sind emotional intelligente Menschen tendenziell gute Führungskräfte?

Prinzipiell ja. Aber es kommt eben auf die Motivation der Führungskraft an und wie sie ihre emotionale Intelligenz einsetzen möchte. Im Job hat man mit Menschen zu tun, und alle Menschen haben Emotionen. Mal fühlen wir uns gut, mal fühlen wir uns schlecht. Wir müssen mit Stress umgehen, wir müssen mit Misserfolg umgehen. Oder es passieren positive Dinge, die Euphorie auslösen. Das bedeutet: In der Lage zu sein, im Arbeitskontext zu einem positiven emotionalen Klima beizutragen, ist natürlich auch für einen Chef oder eine Chefin von Vorteil. Und mehr noch: Man erwartet es von einer Führungskraft. Entscheidend sind jedoch ihre jeweiligen Absichten.

Angenommen, ein Unternehmen will Führungskräfte finden, die einen leistungsstarken Job machen. Würden Sie empfehlen, dann eher weniger nach der emotionalen und mehr nach der kognitiven Intelligenz zu schauen?

In der Tat. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt, dass die Korrelation zwischen kognitiver Intelligenz und Job-Performance sehr stark ist. Hingegen ist der positive Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz und Job-Performance nur sehr schwach ausgeprägt. Das heißt, das Wichtigste, was ich von einem neuen Mitarbeitenden wissen muss, ist, ob er oder sie in der Lage ist, einen guten Job zu machen. Und eine Antwort darauf können Aussagen zu kognitiver Intelligenz geben.

Wenn eine Führungskraft ein Team hat, das zerstritten ist, und sie möchte den Konflikt schlichten, reicht dann die kognitive Intelligenz der Führungskraft, um erfolgreich zu sein?

Nein, dann kommt sicherlich die emotionale Intelligenz ins Spiel. Wenn es beispielsweise eine Gruppe an Führungskräften gäbe, die alle gleich kognitiv intelligent wären und damit die gleichen Voraussetzungen mitbringen würden, um den Job machen zu können, dann sollte man im zweiten Schritt die emotionale Intelligenz der Führungskräfte in den Blick nehmen. Es sind die im Vorteil, die in der Lage sind, mit den Emotionen ihrer Mitarbeitenden konstruktiv umzugehen – und natürlich auch mit den eigenen Emotionen.

Kann man sagen, es ist ein Indiz für eine geringe emotionale Intelligenz, wenn eine Führungskraft auf kritisches Feedback mit einem Wutausbruch reagiert?

Eindeutig, denn es ist klar, dass das keine zielführende Reaktion ist, um mit dem Mitarbeitenden weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Lässt sich beobachten, ob Führungskräfte in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten und Jahren größere emotionale Intelligenz zeigen?

Was sich verändert hat, ist unsere Vorstellung davon, was gute Führung ausmacht. Der am intensivsten erforschte Führungsstil ist transformationales Führungsverhalten, der Obama-Führungsstil sozusagen. Der Stil hat zunehmend an Bedeutung gewonnen. Wir leben in einer komplexen Welt. Führungskräfte sind meist nicht mehr in der Lage, Mitarbeitenden zu sagen, was sie zu tun haben. Häufig wissen das Mitarbeitende selbst besser, weil sie die Experten im jeweiligen Bereich sind. Die Führungskraft kann aber eine Vision vermitteln, die begeistert, und sie kann die Zuversicht vermitteln, dass diese Vision erreicht werden kann. Das ist transformationales Führen.

„Transformationales Führen hat viel mit emotionaler Intelligenz zu tun.“

Und die diesbezüglichen Ansprüche an Führungskräfte sind in den vergangenen Jahren gestiegen?

Ja. Mitarbeitende wünschen sich immer mehr ein partnerschaftliches Führen auf Augenhöhe. Sie wollen eine Führungskraft, die unterstützt und empathisch ist. Das entspricht auch dem kulturellen Selbstverständnis von vielen Organisationen.

Ich habe allerdings einmal gelesen, dass die Fähigkeit zur Empathie bei Führungskräften ab nimmt, je höher sie in der Hierarchie eines Unternehmens steigen. Ist das richtig?

Nicht die Fähigkeit nimmt ab, sondern die entsprechende Motivation. Wir alle sind in der Lage, empathisch zu sein, aber wir sind es nicht in jeder Situation. Der Punkt ist, ich muss in der Stimmung sein für ein empathisches Verhalten. Das hat viel mit der Beziehung zu der jeweils anderen Person zu tun oder beispielsweise mit der eigenen aktuellen Stressbelastung.

Aber Sie haben insofern Recht: „Macht korreliert negativ mit Empathie.“

Je mächtiger jemand ist, desto weniger macht er sich Gedanken über die, die ihm untergeordnet sind. Man denkt eher über die nach, die Macht über einen haben, weil sie vermeintlich das eigene Fortkommen stark beeinflussen.

Kann man emotionale Intelligenz trainieren?

Ja, das kann man. Jede Form des Coachings, jede Psychotherapie ist ein Training in emotionaler Intelligenz. In einer Psychotherapie lernt man beispielsweise, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und mit Emotionen umzugehen – sowohl mit den eigenen als auch mit denen der anderen. Das funktioniert; Beleg dafür ist zum Beispiel, dass Krankenkassen die Kosten von Psychotherapie übernehmen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

changement! Heft 07/2021

 

Interviewpartnerin

Prof. Dr. Myriam Bechtoldt
ist Diplom-Psychologin und Professorin für Leadership an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht. Mit emotionaler Intelligenz beschäftigt sie sich in ihrer Forschungsarbeit. Zudem ist sie systemische Psychotherapeutin und Coachin. In einem aktuellen Projekt untersucht sie, ob erfolgreiche Führungskräfte emotional intelligenter sind als ihre Mitarbeitenden. Teilnehmen können Teams aus jeweils einer Führungskraft und mindestens fünf Mitarbeitenden. Interessierte erhalten nähere Informationen unter leadership@ebs.edu

 

Anja Zerbin war bis Ende des vergangenen Jahres Head of Digital Culture bei der Deutschen Bank. Sie hat in dem Job in vier Jahren sämtliche Höhen und Tiefen erlebt. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen und was es ihrer Meinung nach braucht, damit Verhaltensänderung wirklich nachhaltig ist.

 

Frau Zerbin, Sie waren Head of Digital Culture im Bereich Privat- und Firmenkunden bei der Deutschen Bank. Was war genau Ihre Aufgabe?
Ehrlicherweise war die nie so genau definiert. Im Rahmen der Digitalisierungsstrategie der Postbank damals, wo ich angefangen habe, wurde „Kultur“ als vierte Säule festgelegt. Zunächst stand das allerdings nur auf dem Papier bzw. in einer Präsentation war zu lesen: „Menschen mitnehmen und für die agile Transformation begeistern.“ 

Man hat mich dann auf diese Aufgabe gesetzt und ins Organigramm geschrieben, was natürlich noch lange keine Wertschöpfung ist. Wie die aussehen könnte, hat man dann komplett mir überlassen. Ich konnte also die Aufgabe selbst definieren.  

Mein Team und ich sind dann zu der Überzeugung gekommen, dass unser Purpose ist, die Notwendigkeit zur Veränderung sichtbar zu machen bzw. zu erklären. Von diesem Purpose haben wir dann einzelne Aufgaben abgeleitet.  

Ende des Jahres 2020 haben Sie die Deutsche Bank verlassen. Wer kümmert sich jetzt um die „Digitale Kultur“?
Die Aufgaben sind nun im Bereich „Agile Accelerator“ angesiedelt.  

Kann man sagen, dass das Thema Digital Culture zwar aus einer Top-down-Initiative entstanden, aber bottom-up mit Leben gefüllt wurde?
Eine Top-Down-Initiative war es nicht wirklich. Es gab nur die Strategie in Form einer PowerPoint.  Wir waren damals beim Chief Digital Officer angesiedelt. Die Kultur dort ist im Vergleich zu anderen Unternehmensbereichen in der Regel offener, zum Beispiel was die Nutzung von neuen Arbeitsmethoden angeht. Auch das Mindset ist eher von Veränderungsbereitschaft geprägt.  

Wir hatten zwar nicht von allen C-Level-Mitgliedern die uneingeschränkte Unterstützung. Wir hatten allerdings viel Freiraum und konnten machen, was wir für richtig hielten.  

Was würden Sie sagen, haben Sie vor allem als Head of Digital Culture gelernt?
Wir haben als Team viel gelernt, zum Beispiel wie man selbstorganisiert arbeitet, einen Mehrwert für die Organisation schafft und wie man durch einen Purpose-Prozess durchgeht.  

Welchen Mehrwert haben Sie als Team geleistet?
Beispielsweise haben wir definiert, was hinter diesen ganzen Buzzwords steckt. Was macht beispielsweise eine digitale Kultur aus? 

Und was macht eine digitale Kultur aus, zum Beispiel bei einer Bank? 
Es geht für mich insbesondere um die Art und Weise, wie man arbeitet, nämlich transparent, vernetzt, verbindlich, mit Neugier und Offenheit. Die digitale Kultur basiert auf agilen Werten. Es geht darum, bereits vorhandenes Wissen bestmöglich miteinander zu verknüpfen. Das betrifft alle Bereiche: Produktmanagement, General Management, die bereichsübergreifende Zusammenarbeit.  Digitale Kultur heißt für mich deshalb zuerst, Silos zu überwinden.   

Und ist das Ziel der digitalen Kultur für die Deutsche Bank besonders schwer zu erreichen?
Es ist kein spezifisches Bankenproblem. Es ist in jedem Unternehmen schwierig, in dem Menschen in einer bestimmten Struktur sozialisiert worden sind, in der eigenverantwortliches und vernetztes Arbeiten bis dahin nicht gern gesehen war. Auch das deutsche Schulsystem war da lange nicht förderlich. Und ein zweiter Faktor, der es herausfordernd macht, ist die Größe einer Organisation – egal ob das Wachstum organisch oder durch Zukäufe entstanden ist.  

Würden Sie sagen, Sie waren mit Ihrem Team erfolgreich?
Ich würde sagen, wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten viele Menschen erreicht und bei diesen etwas bewirkt. Aber wir wären definitiv erfolgreicher gewesen, wenn wir eine andere Form der Unterstützung bekommen hätten.   

Wie groß schätzen Sie die Gruppe der Menschen, die Sie erreichen konnten mit Ihrer Arbeit – in dem Sinne, dass Sie wirklich wirksam waren?
Wir haben uns auf das Headquarter konzentriert, dort haben 5000 Leute gearbeitet. Ich würde sagen, am Ende waren es etwa 500 Menschen, also zehn Prozent, die sich wirklich engagiert, die wirklich anders gearbeitet haben aufgrund unseres Wirkens.   

Wie sind Sie vorgegangen, um eine digitale Kultur in der Deutschen Bank zu fördern?
Wir haben uns am Golden Circle von Simon Sinek – Warum, Wie, Was – entlanggehangelt. Wir haben also mit dem „Warum“ angefangen: Was ist eigentlich unser Purpose von „Digital Culture“? Es ging darum, die Notwendigkeit zur Veränderung sichtbar zu machen. 

In Bezug auf das „Wie“ hatten wir vier Schwerpunkte. Als erstes haben wir Aufklärungsarbeit geleistet, zum Beispiel in Form von Impulsen und Diskussionen: Was macht die Digitalisierung aus, für die Deutsche Bank, die Postbank, für die einzelnen Teams, für das Individuum? Und warum ist Veränderung aufgrund der zunehmenden Digitalisierung notwendig? 

Als zweites wollten wir „agiles Arbeiten“ erlebbar machen. So haben wir die Leute beispielsweise in adaptierten einwöchigen bis dreiwöchigen „Google Sprints“ Projekte machen lassen. Wir haben sie „Expeditionen“ genannt.  

Zudem gab es von uns konkrete Unterstützung für das Business. Dafür haben zehn Leute unseres Team sich als Agile Coaches ausbilden lassen. Und die sind immer noch im Unternehmen unterwegs, um Teams oder ganzen Bereichen zu helfen, anders zu arbeiten oder sich neu zu strukturieren.  

Und das vierte Element war das Thema Vernetzung. Das sind wir vor allem mit Entertainment angegangen und haben unter anderem Digital Culture Pop-up-Festivals veranstaltet. Hierfür wurden interne sowie externe Referenten eingeladen und wir haben die Vernetzung mithilfe von Spielen gefördert, sodass man hierarchie- und bereichsübergreifend mit anderen Menschen zu bestimmten Themen in den Austausch gekommen ist.  

Diese Formate brachten eine hohe Reichweite, richtig erfolgreich waren wir im Nachhinein betrachtet allerdings mit den Agile Coaches und den Sprints. Wenn die Dinge erlebbar gemacht werden, sodass die Menschen einen Mehrwert sehen und etwas davon in ihre tägliche Arbeit mitnehmen können, fangen sie an, darüber zu reflektieren.   

Können Sie Beispiele nennen, welche konkreten Verhaltensänderungen sich bei den Engagierten beobachten ließen?
Dazu gehörte zum Beispiel, dass Mitarbeitende anfingen, transparent zu machen, woran sie gerade arbeiten. Das war damals, vor drei Jahren, noch sehr besonders in der Bank. Es wurden zum Teil auch digitale Kanban Boards und andere Tools genutzt – wenn dem keine Datenschutzfragen entgegenstanden.  

Auch Elemente aus Scrum wurden neu erlernt und in den Alltag eingebaut: ein tägliches Standup, Reviews und Retrospektiven. Es wurden also innerhalb der Arbeit Feedback-Schleifen und Reflexionsformate genutzt. 

Wir haben auch eine Box produziert, in dem wir agile Basics in Form von Checklisten versammelten. Darin enthalten waren zum Beispiel die Arbeit mit „Time Timern“ oder rollenbasierte Arbeitskonzepte, die heute gar nicht mehr wegzudenken sind.  

Außerdem konnten wir Verhaltensänderungen beobachten, beispielsweise was die Kommunikation angeht. Retrospektiven habe ich erwähnt. Wir haben außerdem immer wieder betont: Versteckt Euch nicht hinter den Mails, sondern ruft auch einfach mal an oder sucht das direkte Gespräch. Viele mussten lernen, Dinge einfach mal auszusprechen – auch wenn es unangenehm ist. Bei einem Gespräch ergibt sich die Möglichkeit eines Dialogs und der ist manchmal wichtig.  

Aber ehrlich gesagt, ist das Risiko eines Rückfalls in alte Verhaltensmuster groß, wenn niemand das Neue unterstützt und es gleichzeitig Menschen um einen herum gibt, die das traditionelle Verhalten hochhalten.  

Was würden Sie sagen, ist grundsätzlich ein wesentlicher Erfolgsfaktor dafür, dass Verhaltensänderungen nachhaltig sind? 
Die Menschen müssen wissen, warum sie etwas tun. Sie müssen den Mehrwert bzw. den Nutzen für sich selbst erkennen, sei es, dass sie etwas lernen, mehr Geld verdienen, beliebter sind oder sie einen Karrieresprung machen.  

Was ich auch gelernt habe: Der Weg zur Utopie muss den Prinzipien der Utopie gehorchen. Das heißt, alles was du erzählst, musst du selbst auch machen. Es gilt: walk the talk  

Um glaubwürdig zu sein? 
Ganz genau. Und was ich persönlich ebenfalls gelernt habe, ist: Wann immer man Mut zeigen muss, um etwas zu machen, lohnt es sich.  

Wann immer man Mut zeigen muss, um etwas zu machen, lohnt es sich.  

Haben Sie ein Beispiel?
Beispielsweise gibt es in vielen Unternehmen Mailverteiler, die nur von bestimmten „Mailverteiler-Hütern“ benutzt werden dürfen. Jeder andere würde vermutlich geköpft werden – so denkt man zumindest. 

Die Erfahrung zeigt aber, wenn man Dinge dann doch ausprobiert, zu denen man eigentlich nicht die offizielle Erlaubnis hat – wie einen sehr besonderen Mailverteiler zu nutzen – passiert meistens gar nichts. Man muss sich einfach trauen, etwas zu wagen, ohne zu fragen.  

Wir haben zum Beispiel auch ein White Label für unsere Kampagne entwickelt, um es nicht in die Mühlen der Corporate DesignHüter geben zu müssen. Und da ist im Anschluss auch nichts passiert, denn die Leute haben das Label gerne genutzt. Es sah einfach auch cool aus (sie lacht).  

Inwieweit kann ein Kulturwandel aber gelingen, wenn bestehende Systeme und Instrumente nach einer anderen Logik funktionieren bzw. diese das traditionelle Verhalten unterstützen? Ich denke da zum Beispiel an das Performance Management in einem Unternehmen wie der Deutschen Bank. 
Wenn das System und die Rahmenbedingungen eine digitale Kultur nicht fördern, sondern im Prinzip nur dagegensprechen, wird der Wandel auf Dauer nicht funktionieren. Man kann höchstens noch daraufsetzen, möglichst viele Gleichgesinnte zusammenzubekommen, um das System von innen heraus zu sprengen. Das passiert allerdings in großen, hierarchischen Konzernen selten.  

Wir als Team haben das System allerdings durchaus ein wenig herausgefordert. Ich war nämlich der Meinung, dass die klassischen Zielvereinbarungen in Bezug auf ein Jahr, wie sie eigentlich vorgesehen waren, keinen Sinn machen. Weil sich einfach zu viel verändert innerhalb eines Jahres. Deswegen galten bei uns im Team Prinzipien und die Zielvereinbarung wurde durch eine Leistungsbewertung ersetzt. Ich hatte aber auch gute Gründe für mein Vorhaben, nur Rebellentum nützt da nichts.  

Jetzt mit etwas Abstand betrachtet: Wie viel Wandel zur digitalen Kultur ist in der Deutschen Bank in den vergangenen Jahren passiert?
Das Positive ist, dass das Bewusstsein, sich verändern zu müssen, da ist. Das diskutiert keiner mehr weg. Ob aber jedem klar ist, dass es sich nicht nur um eine Mode handelt, sondern die Veränderung wesentlich für den zukünftigen Erfolg ist, das steht auf einem anderen Blatt. Im Zweifel ist die Steuerung über Quartalsergebnisse immer noch wichtiger als langfristige und nachhaltige Investments. Und es gibt immer noch mehr „Command and Control“ statt „Create and Cooperate“. Es bewegt sich etwas – langsam. Als entscheidend sehe ich vor allem einen Punkt an: Auf Top-Ebene braucht es ein einheitliches Verständnis zur agilen Transformation. Wenn das gegeben ist, hat man auch das Fundament für den Wandel zur digitalen Kultur gelegt.  

Das Interview führte Jan C. Weilbacher .

InterviewpartnerIn:

Anja Zerbin
studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft. Nach einiger Agenturerfahrung war sie zunächst im Konzern der Deutschen Bank im Kommunikationsbereich tätig und begleitete in unterschiedlichen Konzernbereichen sowie Tochterunternehmen mehrere Jahre Kommunikations- und Veränderungsprozesse. Sie ist spezialisiert auf Veränderungs- und Wertschöpfungsprozesse von Menschen im Rahmen der digitalen Transformation von Großunternehmen. Bis Ende 2020 war sie bei der Deutschen Bank, sie war als Head of Digital Culture im Chief Digital Office (CDO) im Bereich Privat- und Firmenkunden tätig.

2015 begann Anja Zerbin bei der Postbank. Von 2009 bis 2015 wurde die Postbank nach und nach von der Deutschen Bank übernommen und 2018 auf die DB Privat- und Firmenkundenbank verschmolzen, die ihrerseits im vergangenen Jahr in der Deutsche Bank AG aufging. Dadurch ist auch die Postbank in der Deutsche Bank AG aufgegangen.

 

Als Siemens-Personalchefin hat Janina Kugel viele Restrukturierungen und Transformationen verantwortet. Und doch wirkte sie als Managerin immer nahbar und empathisch. Vielen Frauen gilt sie als Role Model. Im Interview spricht sie über gute Führung in der Krise, Fairness beim Jobabbau und wie es ist, Hunderten von Mitarbeitern eine Standortschließung mitzuteilen.

Frau Kugel, wir erleben Zeiten, die sehr herausfordernd sind. Sie haben in Ihrer Karriere sicherlich auch schon die eine oder andere Krise erlebt. Wie gehen Sie grundsätzlich mit Krisen um?

Krisen sind oft Situationen, die man als unerwartbar bezeichnet. Die Konsequenzen können sehr unterschiedlich sein; viele Unternehmen berappeln sich nicht so schnell. Mit Blick auf Corona ist das deutlich zu sehen. Es macht eben einen Unterschied, ob Sie Mitarbeiter in einem großen Konzern mit Tarifstrukturen sind oder in einem kleinen Einzelhandelsgeschäft oder Restaurant arbeiten, das komplett schließen muss. Da hat sich an mancher Stelle gar nicht die Frage nach Kurzarbeit gestellt, sondern es wurden sofort Mitarbeiter entlassen.

Und dennoch würde ich sagen, dass Krisen auch Chancen mit sich bringen, nämlich Dinge neu anzugehen, neu zu denken, die man vorher nicht denken wollte.

Sie würden also sagen, Sie sind ein Mensch, der schnell Situationen akzeptieren kann und versucht, die Chancen in der Krise zu sehen?

Ja, das zeichnet aber mein Berufsleben auch aus. Die Entwicklung eines Unternehmens läuft nie dauerhaft stabil. Irgendetwas passiert immer. Die größte Gefahr für ein Unternehmen ist, wenn zu lange alles gut lief. Wenn ein Unternehmen zu träge wird und es heißt: „Uns kann keiner was.“ Man muss vielmehr bereit sein, neue Wege zu gehen, die vielleicht vorher nicht möglich waren.

Zum Beispiel kann die Krise die Chance bieten, zu einer neuen Art der Zusammenarbeit zu kommen. Ich hatte neulich ein Beratungsgespräch, wo es um dieses Thema in einem mittelständischen Unternehmen ging. Die Arbeitnehmervertretung war bereit, in Sachen Homeoffice und Überstundenregelungen neue Vereinbarungen zu akzeptieren. Erst einmal für den Übergang, aber meistens bieten solche Zeiten auch die Möglichkeit zu lernen und eine neue Zusammenarbeit auch für die weitere Zukunft hinzubekommen.

Das Wort Krise in den Mund zu nehmen, ist für eine Unternehmensführung sicherlich schon ein Eingeständnis und ein erster großer Schritt. Wie leicht tut sich ein Management Board Ihrer Beobachtung nach mit der Aussage, dass man sich in einer Krise befinde?

Es kommt ein wenig auf die Ursache der Entwicklung an. Das Wort Krise wird häufig für Situationen verwendet, die von außen beeinflusst oder gesteuert werden. Die Situation durch Corona gehört dazu, oder wenn eine ganze Branche durch strukturelle Verwerfungen betroffen ist. In solchen Fällen ist die Unternehmensleitung schnell bereit, von Krise zu sprechen.

Das Wort wird eher nicht in den Mund genommen, wenn es beispielsweise einem Geschäftsteil schlecht geht, weil Managementfehler passiert sind oder die Konkurrenz bessere Produkte hat und man Marktanteile verliert. In diesen Situationen, in denen die eigene Performance die Ursache ist, wird oft nicht so gern von einer Krise gesprochen.

Was muss Ihrer Erfahrung nach eine gute Führung in einer akuten Krisensituation leisten? Worauf kommt es an?

Zunächst einmal geht es um Transparenz, das Darstellen von Fakten. Häufig wird in Unternehmen lange gezögert, bevor eine Situation ehrlich bewertet wird. Es wird verniedlicht und beschwichtigt, Schwachstellen werden versteckt. Deshalb ist als erstes wichtig, eine ehrliche Einschätzung zu treffen, wo das Unternehmen steht, ohne Panik zu machen. Das zweite ist, nicht auf den Faktor Hoffnung zu bauen, zumindest nicht nur. Man muss Szenarien entwickeln, um beurteilen zu können: Was kommt eigentlich, wenn dieses oder jenes eintreten oder nicht eintreten sollte? Dazu braucht es ein diverses Team, das die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen einbringt, damit man den ganzheitlichen Überblick bewahrt.

Und drittens sollte die Fähigkeit da sein, schnell zu entscheiden und klar zu sagen, wer für was verantwortlich ist. Und gerade in kritischen Situationen sind Entscheidungen in Unsicherheit nötig. Davor scheuen sich viele.

Aber würden Sie sagen, dass eine transparente Kommunikation in der Krise wichtiger ist als sonst?

Absolut. Kommunikation und Transparenz sind immer wichtig, aber in der Krise umso wichtiger. Wenn die Führung den Mitarbeitenden klar beschreibt, in welcher Situation sich ein Unternehmen befindet, und klar sagt, was sie heute weiß und was sie nicht weiß, akzeptiert das in der Regel ein Großteil der Beschäftigten.

Führung muss eingestehen können, dass man nicht weiß, wie die Zukunft aussieht. Sie sollte offen kommunizieren, auf Basis welcher vorhandenen Informationen sie bestmöglich entscheidet. Und, falls neue Informationen hinzukommen oder Faktoren sich ändern, man gewillt und in der Lage ist, den Kurs zu ändern.

Leider ist das „alte Führungsdenken“, alles im Griff haben zu wollen, noch weit verbreitet. Aber das ist meines Erachtens ein falsches Verständnis von Führung – egal ob in der Politik oder in Unternehmen.

Wie Sie wissen, habe ich in meinen Jobs hauptsächlich Restrukturierungen und Transformationen verantwortet. Ich wurde diesbezüglich häufig von Arbeitnehmern gefragt, wann es denn endlich vorbei sei. Niemals habe ich sowas geantwortet wie „Nächstes Jahr sind wir durch“, weil ich es meistens nicht sagen konnte und man nie weiß, was als nächstes kommt. Die Wahrheit ist, dass es immer wieder zu Anpassungen kommen muss. Darauf sollte man sich einstellen, auch wenn man nicht genau weiß, wie die Anpassungen aussehen werden.

In jeder Krise zeigt sich für mich eine Sehnsucht nach Leadership. Ist eine Krise die Sternstunde von guter Führung?

In unsicheren Zeiten gibt es immer die Sehnsucht nach Leadership. Immer dann, wenn Sie sich selbst unsicher sind, wünschen Sie sich eine Figur, die Ihnen sagt, wohin die Reise geht, vielleicht auch sagt, was zu tun ist. So können Sie Verantwortung abgeben.

Wichtig ist aber in diesen Zeiten, dass es eine Leadership ist, die klar und besonnen agiert. Gute Leadership heißt auch, bereit zu sein, Entscheidungen anzupassen. Derzeit müssen die meisten auf Sicht fahren, viele unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen. Das ist sicherlich nicht leicht, genauso wenig, wie Entscheidungen wieder zu revidieren.

Man kann beispielsweise als Führungsteam im Voraus festlegen, dass man auf Wochen- oder Monatsbasis entscheidet. Dadurch setzen die Führungskräfte die Hürde niedriger, wenn es darum geht, Entscheidungen wieder revidieren oder anpassen zu müssen.

Was waren in Ihrem beruflichen Leben die größten Krisen, die Sie managen mussten?

Die größten Krisen sind die, wenn es darum geht, eine große Zahl an Mitarbeitern abzubauen. Als HRler muss man ja häufig mit dem Vorurteil leben, dass man nur die „soften“ Themen mache. Das ist aber falsch, denn als Personalerin mit Gesamtverantwortung tragen Sie auch die Verantwortung für sehr schwierige Entscheidungen oder für Entscheidungen, die eine hohe Tragweite haben. Dazu gehören Stellenabbau und Verlagerungen.

Die schwierigsten Momente in meiner Karriere waren für mich sicherlich die, in denen ich vor Hunderten von Mitarbeitern eines Standortes stehen und sagen musste: „Wir werden schließen.“ Eine solche Entscheidung betrifft eine hohe Zahl an Menschen und deren Familien. Meine Erfahrung ist aber auch, dass einem in Deutschland trotz allem in so einer Situation mit Respekt begegnet wird, wenn man persönlich die Gründe erläutert. Aushalten können muss man es aber trotzdem.

Was geht Ihnen so durch den Kopf, bevor Sie sich auf eine Bühne stellen, um der Belegschaft zu sagen, dass ihr Standort geschlossen wird? Denkt man an so was wie „Hoffentlich werde ich nicht mit Tomaten beworfen?“

Also, in Deutschland wurde ich nie mit irgendwas beworfen, in anderen Ländern kann das schon passieren. Es gibt eben kulturelle Unterschiede beim Umgang mit Emotionen. Das muss man wissen und einplanen.

Man muss sich in solchen Situationen klar machen, dass man dort in seiner Funktion steht. Man darf das nicht persönlich nehmen. Das heißt nicht, dass man seine Menschlichkeit verlieren sollte. Im Gegenteil, Empathie ist in solchen Momenten wichtiger denn je. Und auch mögliche Reaktionen der Belegschaft richten sich meist nicht gegen den Menschen, der da kommuniziert, sondern gegen die Funktion als Personalchef, CEO oder Werksleiter.

Um Ihre Frage zu beantworten, was mir durch den Kopf geht, kann ich nur sagen: Leider bekommt man auch in solchen Dingen eine gewisse Routine. Als ich es das erste Mal kommunizieren musste, hatte ich natürlich viel mehr Angst vor der Situation, als das später der Fall war. Ich mache mir natürlich immer Gedanken, wie die Leute reagieren werden.

Können sich Top-Manager noch in die Menschen, die ihren Job verlieren, hineinversetzen? Verstehen sie, was das für die Leute bedeutet? Oder verliert man oben in der Hierarchie in der Regel die Empathie?

Manche können die Empathie entwickeln, andere nicht. Das fängt aber nicht erst ganz oben an. Es gibt auch Männer und Frauen im Mittelmanagement, die das nicht können. Empathie wird fälschlicherweise oft als nicht notwendige Führungsfähigkeit gesehen.

In dem Moment, in dem Sie als Vorstand beispielsweise mit einem Betriebsrat eines kleinen Standorts sprechen, dann sind Sie erst einmal zwei Menschen in einem Raum, die sich auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt begegnen sollten. Glücklicherweise wurde mir ein solches Verhalten von der Arbeitnehmerseite zum Abschied bescheinigt. Manche Führungskräfte können das nicht oder haben das verlernt. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Situation bei Verhandlungen mit dem Betriebsrat schwierig sein kann.

Kann Fairness beim Jobabbau eine Rolle spielen als Kriterium oder geht es immer erst einmal um die Belange des Unternehmens?

Jobabbau ist nie fair für diejenigen, die betroffen sind. Aber es gibt wirtschaftliche Situationen, die ihn dennoch erforderlich machen. Aber manchmal muss man vielleicht entscheiden zwischen dem Werk A und dem Werk B. Es gibt unterschiedliche Ebenen von Fairness. Bei einem Jobabbau geht es vor allem um Offenheit und Transparenz. Sie müssen erklären, warum dieser Abbau nötig ist. Wenn zum Beispiel drei Standorte dieselben Produkte herstellen und der eine Standort ist klar der teuerste, dann muss man das auch so sagen. Die Entscheidung wird zumindest nachvollziehbar. Aber etwas in seiner Logik nachvollziehbar zu finden, heißt noch lange nicht, dass Menschen es persönlich akzeptieren.

Man muss als Unternehmen versuchen, Entscheidungen abzuwägen. Das kann zum Beispiel bedeuten, zu berücksichtigen, ob es in der jeweiligen Region eines Standortes gute Wiederbeschäftigungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter gibt. Wenn Sie so einen Standort schließen, ist es sicherlich fairer, als wenn derjenige Standort geschlossen wird, wo der Arbeitsmarkt schlecht ist und die Menschen keinen neuen Job finden werden.

Fairness hat viel mit dem Vergleichen mit anderen zu tun. Menschen fühlen sich unfair behandelt, weil sie beispielsweise den Eindruck haben, dass Kollegen übervorteilt werden. Kam das in Ihrem Berufsleben vor, dass Menschen zu Ihnen kamen, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben? Und wie sind Sie damit umgegangen?

Das habe ich sehr häufig erlebt. Und oft ist es so, dass man von außen die Situation anders bewertet als der oder die Betroffene selbst. Nicht selten fühlen sich Menschen unfair behandelt und haben bezüglich eines Themas eine Perspektive, die kein anderer so teilt. Die Frage ist dann, was ist die Fremdwahrnehmung und wie viel Selbstreflexion hat man. Und das ist sehr unterschiedlich.

Ein alter Kollege von mir hat immer gesagt: „Perception is reality.“ Man will mit einem Verhalten eigentlich niemand ärgern oder in die Enge drängen, aber wenn diese Person trotzdem das so empfindet, dann ist das auch eine Realität. Was dann nötig ist, ist die Reflexion darüber: „Ich wollte keinen verärgern und dennoch ist es passiert. Was hätte ich denn anders machen können?“ Das ist wichtig und deshalb habe ich immer stark auf eine Feedback-Kultur gesetzt. Mitarbeiter und Führungskräfte sollten sich beispielsweise gegenseitig Feedback geben können, um so daraus zu lernen und sich weiterentwickeln zu können. Wo das ehrlich stattfindet, gibt es seltener Unzufriedenheit.

Dass sich eine Führungskraft gegenüber ihren Vorgesetzten anders präsentiert als gegenüber den Mitarbeitern, muss auch klar sein. Um jedoch ein ganzheitliches Bild zu bekommen, ist es wichtig zu erfahren, was die Peers und die Mitarbeiter zu dieser Person und ihrem Verhalten sagen. Das wird in der Unternehmenslandschaft teilweise verkürzt gesehen.

Würden Sie sagen, Frauen werden, was Karriere angeht, in Konzernen unfair behandelt?

Ich würde sagen, dass Frauen in großen Konzernen meistens nicht dem gängigen Stereotyp einer Führungskraft entsprechen. Und damit wird es deutlich schwieriger, bestimmten stereotypen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, die als Norm gelten, tatsächlich zu entsprechen.

Eine kürzlich veröffentlichte UN-Studie besagt, dass neun von zehn Menschen auf der Welt Vorurteile gegenüber Frauen haben, also auch Frauen haben Vorurteile gegenüber Frauen. Wenn es um die Frage geht, wie eine Führungskraft sein soll, dann haben die meisten von uns einen männlichen Führungstyp vor Augen. Wenn jemand dem nicht entspricht, entsteht automatisch das Vorurteil, dass diese Person nicht so geeignet ist. Das gilt für Männer und Frauen.

Studien belegen auch, dass Männer eher nach Potenzial besetzt werden, während bei Frauen häufiger gefragt wird: „Hat sie denn schon die Erfahrungen gesammelt?“. Das heißt, bei diesem „unconscious bias“ muss strukturell gegengesteuert werden, um sich einer Objektivierung anzunähern. Wenn niemand aufpasst, sind es letztlich doch subjektive Entscheidungen, die sich nach dem Stereotyp der Organisation oder des Entscheiders richten.

Sie verkörpern, was das klassische Bild einer Führungskraft angeht, zumindest auf den ersten Blick keinen der gängigen Stereotype. Was war trotzdem ausschlaggebend, dass Sie es bis in den Vorstand von Siemens geschafft haben?

Ich erfülle vielleicht optisch nicht die Stereotype. Die Frage ist aber eher, wann lernt man in einem Berufsleben bestimmte Verhaltensmechanismen, die den Stereotypen entsprechen. Und die habe ich definitiv in meiner Karriere gelernt.

Sind Sie gerade selbstkritisch mit sich?

Ich würde sagen, realistisch. Ich sage oft zu jungen Frauen: „Wenn Sie wissen, dass in einem bestimmten Umfeld Fußball gespielt wird, dann können Sie nicht ankommen und sagen, ich kann kein Fußball spielen, sondern ich will Volleyball spielen. Wenn Sie aber Fußball mitspielen, dann können Sie auch auf die Regeln Einfluss nehmen. Wenn Sie außerhalb des Systems bleiben, wird es mit Veränderungen schwierig.“

Ich habe mir zum Beispiel abgeschaut, wie andere ihre Themen präsentieren. Zu glauben, dass in den Gremien Entscheidungen nur auf Basis der Bewertungen von Fakten erfolgen, ist Unsinn. Wenn es um die Frage geht, wer das Budget bekommt oder welche Anträge durchgehen, dann gibt es sachliche Analysen. Im Vorfeld sollten Sie jedoch zusätzlich bereits ausreichend Unterstützer und Unterstützerinnen für Ihr Vorhaben gewonnen haben. Das ist eine ungeschriebene Regel in vielen Organisationen. Sie müssen lernen, wie Entscheidungen getroffen werden, wie Sie Mehrheiten beschaffen, wie Sie Stakeholder Management betreiben und wie Influencing gemacht wird. Vieles davon ist in den meisten Organisationen männlich geprägt.

Aber mit dem Blick auf Frauen und Karriere: Heißt das dann doch, Frauen müssen das Spiel halt mitspielen, sich anpassen?

Die Welt ist noch nicht perfekt. Klar ist: Wenn wir etwas verändern wollen, dann sind es die Systeme, die sich anpassen müssen. Der Anpassungszwang darf nicht bei Frauen oder Männern, die nicht dem Stereotyp entsprechen, liegen. In den Entscheiderpositionen sind jedoch häufig Gruppen von Menschen, die in ihrem Leben in der Regel keine Diskriminierung erfahren haben. Also wissen sie oft nicht einmal, welche Strukturen sie verändern müssen, um Diskriminierung vorzubeugen. Sie haben das selbst nie erlebt. Es braucht also bei Entscheidern entweder die Offenheit, diesen Gruppen zuzuhören, um ein Bewusstsein für das Thema zu entwickeln. Oder es braucht in den Entscheidungspositionen einen signifikanten Anteil an Diversität, um Veränderungen vornehmen zu können. 30 Prozent gilt in der Forschung als die Mindestgröße. Ab dann spricht man nicht mehr von einer Minderheit, sondern von einer repräsentativen Gruppe.

Was haben Sie persönlich getan, für sich selbst, um nicht allzu sehr die eigenen Ideale im System aufgeben zu müssen?

Ich habe mir Unabhängigkeit im Kopf bewahrt. Und gleichzeitig gilt es, mutig zu sein, wenn man verändern will. Damit man jedoch gefahrlos mutig sein kann, braucht man eine klare Verankerung im System sowie Leute, die sagen: „Das hat uns jetzt nicht gepasst, aber die kann ihren Job, und an anderen Stellen kommen wir mit der relativ gut klar.“ Ich kann insgesamt sagen: Kompromisse habe ich viele gemacht – das ist normal. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich meine Ideale und Werte aufgeben musste.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Jan C. Weilbacher

Interviewpartnerin:

Janina Kugel ist Aufsichtsrätin, Senior Advisorin und Rednerin. Zuletzt war sie Arbeitsdirektorin und Mitglied des Vorstands der Siemens AG. Dabei verantwortete sie weltweit den Bereich Human Resources, darunter Diversity, Aus- und Weiterbildung, soziale Innovationen sowie Umweltschutz, Gesundheitsmanagement und Sicherheit. Ihre Karriere begann Janina Kugel im Management Consulting bei Accenture. Nach ihrem Wechsel in die Industrie hatte sie verschiedene Führungsfunktionen bei Siemens inne und war bei Osram Licht AG als Chief Human Resources Officer weltweit verantwortlich für die Bereiche Personal, Führungskräfteentwicklung und Diversity. Janina Kugel ist Aufsichtsrätin bei Konecranes Oyj, Finnland, und im Pensionssicherungsverein. Sie ist aktive Unterstützerin zahlreicher nationaler und internationaler Diversity-Initiativen. Die Mutter von zwei Kindern lebt mit ihrer Familie in München. In ihrer Freizeit geht sie joggen, spielt Tennis und Klavier.

 

Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Führung in Organisationen? Was können, was sollten Führungskräfte jetzt tun? Wir haben nach Meinungen gefragt: „Führung in Zeiten von Corona“.