Porträt von Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

Energiewende erfordert entschlossenes Handeln

„Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft“

Dass es in Deutschland eine Energiewende braucht, scheint außer Frage zu stehen. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen haben den Wandel hin zu einer nachhaltigeren Energieversorgung noch mal deutlich gemacht. Und dennoch gehen die Veränderungen nur langsam voran – oder sie werden gar ausgebremst. Die Energieökonomin Claudia Kemfert fordert im Gespräch von allen Beteiligten ein entschlossenes Handeln für die Wende. Vor allem müsse man so schnell wie möglich aufhören, fossile Energien zu verbrennen.

Frau Kemfert, seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit nachhaltiger Energieversorgung und der Energiewende und Sie haben immer wieder auf die Probleme aufmerksam gemacht. Es ist manches passiert. Es gab und gibt aber auch immer wieder Rückschläge hinsichtlich der Energiewende. Zuletzt hieß es, dass Deutschland die für 2030 angesetzten Klimaziele deutlich verfehlen wird. Haben Sie noch Zuversicht?
Wenn es gelingt, zahlreiche Fehlentwicklungen zu korrigieren, könnten die Klimaziele durchaus erreichbar sein. Im Energiesektor muss so schnell wie möglich der Kohleausstieg umgesetzt werden. Aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der damit einhergehenden Gaskrise werden Kohlekraftwerke derzeit wieder verstärkt genutzt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss schneller gehen. Der Verkehrssektor hinkt weit hinterher, Elektromobilität auf Schiene und Straße muss deshalb ebenfalls schneller forciert werden. Verkehrswende bedeutet vor allem eine Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung. Der Schienenverkehr und ÖPNV müssen gestärkt, Ladeinfrastrukturen ausgeweitet sowie Fahrrad- und Fußwege ausgebaut und sicherer gemacht werden.

Auch im Gebäudesektor gibt es viel nachzuholen. Die energetische Sanierung der Bestandsgebäude ist enorm wichtig genauso wie der Einsatz von Wärmepumpen und die Erreichung von emissionsfreien Nah- und Fernwärmeoptionen.

Und schließlich der Industriesektor: Das Energiesparen ist hier genauso elementar wie der Einsatz von hochindustriellen Wärmepumpen und emissionsfreien Technologien. Der kostbare Ökostrom muss möglichst effizient überall genutzt werden.

Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch beträgt in Deutschland etwa 17 Prozent. Was, würden Sie sagen, ist der Hauptgrund, warum der Anteil immer noch relativ gering ist?
Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde insbesondere in den vergangenen zehn Jahren massiv gebremst. Es wurden absichtlich Barrieren und Hemmnisse eingeführt. Die Umstellung auf Ausschreibungen hat den Zubau beispielsweise stark verlangsamt, auch die Einführung von Abstandsregeln bei der Windenergie hat dazu geführt, dass der Ausbau nahezu komplett zum Erliegen kam. Es gilt, die Rahmenbedingungen rasch zu ändern, damit der Anteil von erneuerbaren Energien überall wächst. Ökostrom sollte möglichst sofort effizient zum Einsatz kommen, wie beispielsweise bei Wärmepumpen oder Elektromobilität.

Die Folgen des Klimawandels sind gut belegt. Die Notwendigkeit der Veränderungen ist allgemein akzeptiert. Warum fällt es uns dennoch so schwer, einen wirklichen Umbruch zu gestalten?
Klimaschutz bedeutet, dass wir so schnell wie möglich aufhören müssen, fossile Energien zu verbrennen. Die Geschäftsmodelle der fossilen Industrie würden dann wegfallen. Das wird durch die Interessenvertreter nun seit Jahrzehnten erfolgreich verhindert. Die Beharrungskräfte sind enorm. Die Lobbyisten der Vergangenheit sind noch immer viel stärker als die Lobbyisten der Zukunft. Die Politik muss entschlossener die Interessen der zukünftigen Generationen berücksichtigen. Leider passiert dies nicht in ausreichendem Maße.

Aufgrund des Ukraine-Krieges und des Gaslieferstopps durch Russland scheinen die Bedingungen für die erneuerbaren Energien in Deutschland eigentlich so gut wie nie zu sein. Braucht es vielleicht solche Krisen, um einen echten Wandel zu gestalten?
Scheinbar braucht es schreckliche Krisen, um wach zu werden. Aber: Ausreichend gehandelt wird immer noch nicht. Wir alle zahlen den Preis der verschleppten Energiewende. Ganz besonders die Ärmeren. Dabei wäre präventives Handeln so viel besser als reaktives. Die verschleppte Energiewende, die Klimakatastrophe, das Artensterben, die Pandemie, die Demokratie- und Wirtschaftskrise: Wie viele Krisen brauchen wir denn noch? Sicherlich ist die Gaskrise ein großer Weckruf, aber sie hat auch zwei Seiten. Hohe Preise für fossile Energien lassen Energiesparen und erneuerbare Energien attraktiver werden. Aber auch das Bohren nach Öl und Gas und Kohleabbau werden ebenso finanziell attraktiv.

Das heißt, aufgrund des Krieges gewinnen „schmutzige Energien“ wieder an Bedeutung?
So ist es. Überall auf der Welt wird wieder vermehrt nach Öl und Gas gebohrt und Kohle abgebaut. Selbst Deutschland baut überflüssige überdimensionierte Flüssiggas-Terminals, will in der Nordsee im Naturschutzgebiet nach Gas bohren und vereinbart fossile Gas-Lieferungen mit fragwürdigen Partnern. Das geht in die völlig falsche Richtung. Wenn wir so weitermachen, kommen wir aus den vielen Krisen gar nicht mehr heraus.

Wer sind in Ihren Augen die entscheidenden Akteure, um der Energiewende einen großen Schub zu geben? Die Politik, die Wirtschaft oder die Verbraucher?
Alle. Verbraucher haben es in der Hand, durch aktive Kaufentscheidungen und Verhaltensänderungen die Unternehmen zum Handeln zu zwingen. Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Die Subventionen für fossile Energien noch immer viel zu hoch. Umweltabgaben viel zu niedrig. Und Unternehmen müssen die Wirtschaft transformieren, auf erneuerbare Energien umstellen, Energie einsparen sowie grünen Wasserstoff herstellen und nutzen. Somit sind alle Teil der Lösung. Alle zusammen, nicht einer allein.

Können die Energieversorger selbst auch einen wesentlichen Beitrag für die Energiewende leisten? Inwieweit sind sie beispielsweise vorbereitet auf eine in Zukunft vermutlich stärkere dezentrale Energieerzeugung?
Selbstverständlich. Die Energieversorger stellen ja auch so langsam endlich um und erhöhen den Anteil erneuerbarer Energien. In Kombination mit digitalem Energie- und Lastmanagement und dem vermehrten Einsatz von Energiespeichern werden mehr und mehr neue Geschäftsmodelle geschaffen, auch dezentrale. Die Energiewende ist dezentral, flexibel, digital und vernetzt. Die Energieerzeugung von Bürgern ist somit auch wichtig, genauso wie die von kommunalen Unternehmen.

Was würden Sie sagen, sind die wichtigsten zwei oder drei strategischen Hebel, um die erneuerbaren Energien und die nachhaltige Energieversorgung entscheidend voranzubringen? Was braucht es zum Beispiel, damit der Ausbau von Windkraft und Solaranlagen schneller vorangeht?
Es werden noch immer zu wenig Flächen für Windenergie ausgewiesen. Die Genehmigungsverfahren sind zu kompliziert, fehleranfällig und damit angreifbar. Sie müssen entschlackt, vereinfacht und juristisch eindeutig umgesetzt werden, sodass alle Belange, vor allem des Natur- und Artenschutzes ausreichend berücksichtigt werden. Akzeptanzsteigernd sind vor allem Partizipationsmöglichkeiten, die über Bürgerenergien oder aber durch finanzielle Vorteile – wie sinkende Strompreise – erreicht werden können. Auch bei der Solarenergie gilt es, die Verfahren zu erleichtern. Das größte Hemmnis wird allerdings zunehmend der Fachkräftemangel. Hier gilt es dringend gegenzusteuern.

Laut Expertenrat für Klimafragen müsste der Industriesektor seine jährlichen Emissionseinsparungen etwa verzehnfachen, damit die deutschen Klimaziele bis 2030 noch erreicht werden könnten. Im Verkehrssektor müsste der Ausstoß pro Jahr sogar um das 14-Fache reduziert werden. Wie könnte das gelingen? Kann die Energiewende nur durch Verzicht gelingen – Verzicht auf Gewinne, Mobilität und Komfort?
Die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir sie nicht weiter ausbremsen und die Rahmenbedingungen so anpassen, dass sie überhaupt gelingen kann. Im Verkehrssektor geht es auch, wie ich bereits erwähnte, um Verkehrsvermeidung. Verkehrswende beutet, dass nicht mehr wie bisher 90 Prozent aller Fahr- bzw. „Stehzeuge“ herumstehen, sondern Mobilitätsdienstleistungen im Vordergrund sind. Wenn alle Menschen Zugang zu preislich erschwinglicher und attraktiver Mobilität haben, ist das ein Gewinn. Im Industriesektor gibt es gigantische Chancen.

Angesichts der Dringlichkeit der Transformation der Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität darf Deutschland nicht im Aktivismus um kurzfristige Unternehmenshilfen stecken bleiben. Entscheidend ist vielmehr, dass jetzt schnell und effizient eine industriepolitische Strategie für den Umbau der Industrie umgesetzt wird. Wenn die Produktionsprozesse dekarbonisiert werden und die Industrie in Energieeffizienztechnologien und Energiesparprogramme investiert sowie in den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien, kann eine dauerhaft nachhaltige und resiliente Wirtschaft entstehen und bestehen.

Mit der Energiewende, also weg von fossilen Energien hin zu Energieeffizienz und erneuerbaren heimischen Energien sowie Lieferketten, kann die deutsche Industrie dauerhaft gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Was erwarten Sie von der Politik diesbezüglich vor allem?
Entschlossenes und schnelles Handeln. Wir sind in einer Zeitenwende. In puncto Energie wird dem derzeit nicht ausreichend Rechnung getragen.

Und wo gibt es für Sie Zeichen der Hoffnung?
Bei den Menschen. Ich erlebe viel Verständnis und Solidarität. Das gibt Hoffnung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jan C. Weilbacher.

 

 

Autorin

Prof. Dr. Claudia Kemfert
ist eine der profiliertesten Energieökonominnen Deutschlands. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Sie ist zudem Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Bis 2019 war sie Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Von 2004 bis 2009 hatte sie die Professur für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität inne. Claudia Kemfert hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht. „Schockwellen: Letzte Chance für sichere Energien und Frieden“ ist der Titel ihres aktuellen Buches.
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