Die unsicherste Lösung in unsicheren Zeiten

In Krisenzeiten ist der Ruf nach Führung besonders populär. Dabei ist gerade Führung selbst eines der unsichersten Mittel, die der Organisation zur Verfügung stehen. Hingegen wird das Potenzial von Strukturen zu wenig gesehen. Wenn in unsicheren Situationen der Wunsch nach Orientierung und Klarheit groß ist, können häufig strukturelle Entscheidungen die notwendigen Sicherheiten vermitteln.

Wie viel Unsicherheit in die Gegenwart dieser modernen Gesellschaft passt, ohne dass auch die verbliebenen Selbstverständlichkeiten zerfallen, kann immer wieder aufs Neue erstaunen. 2019 hat die wachsende Aufmerksamkeit für die Klimakatastrophe allein gereicht, um Organisationsrepräsentant:innen zur Aussage zu verleiten, dass man sich in unsicheren Zeiten befinde. Dazu gesellten sich weitere Begleiter der Unsicherheit wie die voranschreitende (oder noch schlimmer: stockende) Digitalisierung, eine alternde Bevölkerung oder eine Generation mit neuen Ansprüchen. Jeder dieser Faktoren alleine macht es möglich, eine Sonntagsrede legitim mit den Worten „Wir befinden uns in Zeiten des Wandels. ‚Das haben wir immer so gemacht‘ zählt nicht mehr“ anfangen zu können.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass jetzt, gegen Ende des Jahres 2022, da noch einige Unsicherheitsfaktoren zu den vorgenannten hinzugekommen sind, häufig die Worte fehlen, um die neue Qualität der ergebnisoffenen Zukunft adäquat zu beschreiben. „Krise! – Jetzt aber richtig!“ eignet sich nicht unbedingt als Betreff für die „@all-E-Mail“, in der eine Geschäftsführerin ihre Leute auf unsichere Zeiten einstellt – wie sie es in den vergangenen drei Jahren möglicherweise schon mehrfach getan hat. Jedes Mal aus berechtigtem Anlass.

„Was sich Mitarbeitende nun wünschen, wenn sie in diesen Abgrund und den abbröckelnden Selbstverständlichkeiten hinterherschauen, wird in der Soziologie Unsicherheitsabsorption genannt.“

Treibstoff für Handlungen in Organisationen

Unsicherheitsabsorption ist eine Art Treibstoff für Handlungen in Organisationen. Nur wenn man wenigstens etwas eingrenzen kann, was eine Handlung für Konsequenzen hat, ist es möglich, Entscheidungen zu treffen. Was diese Eingrenzung ermöglicht, ist dabei irrelevant – solange sich die Ergebnisse im erwarteten Rahmen bewegen. Fest definierte Arbeitsabläufe reduzieren ebenso Unsicherheit wie das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten oder eine gemeinsame Geschichte von guter Zusammenarbeit. Auch der Glaube an Schicksal und höhere Mächte helfen, insbesondere, wenn man den Rahmen an erwartbaren Konsequenzen nicht zu eng steckt.

In Krisenzeiten ist der Ruf nach Führung besonders populär. Interessanterweise ist aber gerade Führung selbst eines der unsichersten Mittel, die der Organisation zur Verfügung stehen. Dafür gibt es drei Gründe.

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Autoren

Dr. Judith Muster ist Partnerin bei Metaplan und Co-Geschäftsführerin der Metaplan Gesellschaft für Verwaltungsinnovation. Außerdem forscht und lehrt sie am Lehrstuhl Organisations- und Verwaltungssoziologie der Uni Potsdam zu Digitalisierung, Führung und postbürokratischem Organisieren.

Dr. Kai Matthiesen ist Kaufmann und Wirtschaftsethiker. Seit 2001 ist er bei Metaplan, heute als geschäftsführender Partner. Kai Matthiesen lehrt außerdem an der Universität St. Gallen unter anderem zu den Themen Digitale Transformation und Führung.