Mal ehrlich: Organisationen besser verstehen
Für die einen Allheilmittel, für die anderen völlig überbewertet: Tools und Methoden im Change. Wir fühlen Expertinnen und Experten auf den Zahn und wollen ihre Sicht der Dinge sowie einige Tipps erfahren. Diesmal fragen wir Judith Muster.
Mal ehrlich, Tools und Methoden werden im Rahmen von Veränderungen überschätzt! Richtig?
Nicht unbedingt. Organisationen sind zwar keine rationalen Maschinen, die man mit den richtigen Methoden zum reibungslosen Laufen bringt. Dafür sind Organisationen viel zu wilde Systeme mit Eigenlogiken, die man sehr spezifisch verstehen und verändern muss. Dennoch: Manchmal helfen Methoden, Legitimation für Vorgehensweisen zu erzeugen. Und Legitimation für Veränderungen ist nicht immer leicht herzustellen. Nutzt man dafür Methoden, braucht es allerdings unbedingt eine Anpassung an die jeweilige Organisation.
Man lernt ja doch hin und wieder die ein oder andere neue Methode oder einen neuen Ansatz in Bezug auf Change und Transformation kennen. Wann hattest du diesbezüglich das letzte Mal ein Aha-Erlebnis?
Bei der Lektüre einiger Liberating Structures. Insbesondere die, die sich auf die Gestaltung von Interaktionen beziehen. Hier zeigt sich, dass gute Interaktionen strukturierende Rahmen brauchen. Nur in einem gut geplanten Raum können sich Gedanken frei entfalten.
Du bist Organisationsentwicklerin. Was hilft dir, eine Organisation besser zu verstehen?
Die frühe Systemtheorie Niklas Luhmanns, insbesondere seine funktionale Analyse. Sie geht von der Prämisse aus, dass Organisationen Probleme lösen müssen und dafür einen besonderen Modus zur Verfügung haben, nämlich den der Strukturbildung. Jedes Problem kann durch unterschiedliche Strukturen gelöst werden. Das heißt, Strukturen sind hinsichtlich des Bezugsproblems, das sie lösen, funktional äquivalent. Die Analyse zielt darauf ab, solche funktionalen Äquivalente zu identifizieren, und beschreibt dann die Folgeprobleme der jeweiligen Lösungen. Denn jede Struktur hat mehr als einen Effekt. Manche dieser Effekte sind Lösungen für Probleme. Andere Effekte sind ihrerseits problematisch, sie erzeugen Folgeprobleme.
Am Ende entscheidet man sich dann für Probleme und nicht für Lösungen.
Nämlich für solche Probleme, die man in Zukunft am besten managen kann.
Was begeistert dich so sehr an der Systemtheorie in Bezug auf Organisationsberatung?
Die Systemtheorie wird der empirischen Realität von Organisationen gerecht. Sie beschreibt nicht, wie Organisationen normativ sein sollen, sondern so, wie sie tatsächlich sind. Dabei bietet sie Begriffe an, die man wie Suchscheinwerfer oder Röntgengeräte einsetzen kann – um besser zu sehen. Das hat etwas enorm Entlastendes, so erlebe ich das in der Praxis.
Wenn es einen soziologischen Fachbegriff dafür gibt, wenn ich beispielsweise die Regeln beuge, um meinen Job gut zu machen (nämlich „brauchbare Illegalität“), dann kann ich leichter sehen, dass es sich um ein typisches Phänomen in Organisationen handelt – und nicht um persönliches Versagen.
Die Systemtheorie lenkt die Aufmerksamkeit weg von der „Schuld“ der Organisationsmitglieder hin zu den Eigenlogiken des organisierten Systems. Sie weist darauf hin, dass Organisationen dazu tendieren, ungelöste Organisationsprobleme hin zu ihren Mitgliedern zu verschieben und ihnen die Schuld dafür zu geben, wenn etwas nicht funktioniert.
Dabei macht es viel mehr Sinn an den Verhältnissen anzusetzen, nicht am Verhalten Einzelner.
Warum lieben Beraterinnen und Berater eigentlich Workshops als Instrument so sehr?
Das ist eine sehr gute Frage. Es scheint tatsächlich jeder Beratungsprozess immer auf einen Workshop hinauszulaufen. Das lässt sich vermutlich auch gut verkaufen. Dabei wird allerdings häufig übersehen, dass nicht der Workshop, sondern die Vorbereitung des Workshops die Veränderung anlegt. Wir empfehlen, mit mindestens der Hälfte der Teilnehmenden eines Workshops vorher intensive Gespräche zu führen, meistens sogar mit allen Beteiligten. So wird die Verständigung diskursiv vorbereitet.
Im Workshop wird sie dann nur noch erlebt. Ich will die Funktion von Workshops nicht kleinreden, aber der wesentliche Teil beraterischer Tätigkeiten liegt in der Phase vor dem Workshop. Hier geht es darum, die unterschiedlichen Rationalitäten miteinander in den Diskurs zu bringen, die zentralen Gestaltungshebel zu identifizieren und zu verproben, das Denken zu öffnen und mikropolitische Fallstricke auszuräumen. Mit den Ergebnissen der Sondierungsgespräche sollten die zentralen Akteure übrigens nicht auf offener Bühne überrascht werden. Oft braucht es daher sogar mehrere Gesprächsrunden.
Und worauf legst du grundsätzlich immer Wert, wenn du einen Workshop gestaltest?
Neben der organisationssoziologischen Analyse braucht es für einen Workshop ein gutes moderatives Handwerk – von der Thesenbildung über die Blitzdiskussion von Analyseergebnissen bis hin zur Ergebnissicherung sowie dem Sprechzettel für die Kommunikation nach dem Workshop. Ganz wichtig: mindestens zwölf Tafeln im Raum.
Welche Kompetenz sollte jeder Organisationsentwickler bzw. jede Organisationsentwicklerin mitbringen?
Die Fähigkeit, virtuos mit Kontingenz umzugehen. Und zwar auf drei Weisen: Meist gilt es zu Beginn, Kontingenz zu erhöhen, wenn die Kund:innen zu schnell den Lösungsraum schließen wollen. In einigen Phasen des Beratungsprozesses kann es darum
gehen, Kontingenz zu verändern. Nämlich wenn sie erschlagend wirkt und Handlungsoptionen unsichtbar werden. Am Ende einer Beratung gilt es, Kontingenz zu strukturieren, damit Entscheidungen bindend getroffen werden können. Das Aushalten von Kontingenz ist für die Kund:innen meistens nicht leicht. Als Berater:in muss man den Kontingenzraum gestalten können.
Wer oder was inspiriert dich besonders, wenn es um Veränderungsbegleitung geht?
Die Gründungsgeschichte von Metaplan. Die Gründer kommen ursprünglich aus der Gestaltung von Büros, das war vor über 50 Jahren. Um das besser tun zu können, haben sie sich theoretisches Wissen besorgt, Theoretiker eingeladen und sogar einen Verlag gegründet. Sie haben die Metaplan-Moderationsmethode entwickelt, um besser zwischen verschiedenen Rationalitäten moderieren zu können, dafür haben sie mit Künstler:innen zusammengearbeitet. Sie waren neugierig und haben viel ausprobiert. Das inspiriert mich sehr.
Autorin
Judith Muster
ist Partnerin bei der Beratungsgesellschaft Metaplan. Sie ist zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Organisations- und Verwaltungssoziologie in Potsdam.
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