Schlagwortarchiv für: Ausgabe 02/2020

In einer Zeit, in der es „normal ist, dass vieles anders ist und immer schneller anders wird“, wie der Zeitforscher Karl-Heinz Geißler das so treffend beschrieb, steht auch und insbesondere die Rolle von Führung zur Diskussion. Führung bedeutet, andere erfolgreich zu machen. Führung ist daher keine Frage der Position mehr, sondern vielmehr eine Frage der Haltung. Diese Haltung und die Werte neuer, agiler, digitaler und vor allem menschlicher Führung beschreibt mein „Manifest für menschliche Führung“.

Dieses Manifest entstand zwar Anfang 2018 im Rahmen der agilen Transformation der BMW Group IT als erster Versuch einer Antwort auf die Frage nach Führung. Diese Reise hin zu mehr Agilität und Selbstorganisation angesichts von VUCA, Digitalisierung und Disruption ist aber nur der willkommene Anlass, schon länger bestehende Konzepte der dienenden Führung endlich mit neuem Leben zu füllen.

Wertschöpfung durch Wertschätzung

Wir glauben an die Kreativität, Leistungsbereitschaft und Motivation der Menschen. Für uns ist der Mensch nicht Mittel zum Zweck, sondern steht im Mittelpunkt. Wir betrachten das Menschliche als entscheidenden Erfolgsfaktor in unserer stark vernetzten digitalen Welt. Wir sehen die Aufgabe von Führung darin, nach Rahmenbedingungen zu streben, in denen sich Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit entfalten und gemeinsam erfolgreich sein können.

Dabei leiten uns die folgenden sechs Thesen, die bewusst Gegensätze vermeiden und stattdessen als Spannungsfelder formuliert sind, was so verstanden werden soll, dass beide Seiten wichtig, aber die zuerst genannten hier und heute höher einzuschätzen sind.

1. Entfaltung menschlichen Potenzials – mehr als Einsatz menschlicher Ressourcen

Wer Organisationen wie Maschinen betreibt und Menschen wie Rädchen darin behandelt, darf sich über Dienst nach Vorschrift nicht beklagen. Wo Menschen als Ressourcen eingesetzt werden, verhalten sie sich auch so. Ihre individuellen Potenziale entfalten diese Menschen dann in ihre Freizeit. Führung kann und muss hier zukünftig einen für alle Seiten entscheidenden Unterschied machen.

Aufgabe von Führung ist es nicht länger, genormtes menschliches Arbeitsmaterial möglichst gewinnbringend einzusetzen, sondern wie ein Gärtner ein Ökosystem zu schaffen und zu erhalten, in dem die Menschen ihr individuelles Potenzial zur Entfaltung bringen können. „Führung ist Dienstleistung – und kein Privileg. Die Dienstleistung für den Mitarbeiter besteht darin, ihm die Möglichkeiten zu bieten, sich selbst zu entwickeln.“ (Bodo Janssen)

2. Diversität und Dissens – mehr als Konformität und Konsens

Diversität (Diversity) hat ihren Ursprung in der Bürgerrechtsbewegung in den USA und meint daher meist Chancengleichheit und Abwesenheit von Benachteiligungen. Es geht aber um mehr als Chancengleichheit. Es geht um eine Kultur, in der die Unterschiedlichkeit der Menschen – wie sie über Dinge denken, wie sie Probleme lösen, welche Erfahrungen sie mitbringen und welche Werte sie prägen – einen hohen Stellenwert hat.

Gute Führung strebt nach einer Kultur, in der die Individualität mehr wertgeschätzt wird als die Konformität – eine Kultur, in der ein konstruktiver Dissens als notwendiger Teil der gemeinsamen Entscheidungsprozesse und nicht als Störung betrachtet wird.

3. Sinn und Vertrauen – mehr als Anweisung und Kontrolle

Die ureigenste Aufgabe von Führung ist es, Orientierung zu bieten. Genau deshalb ist Führung gerade in agilen Organisationen wichtig. Ohne Orientierung wird Agilität beliebig.

Agile und selbstorganisiert arbeitende Teams sind aber nur ein Spezialfall der allgemeineren Frage, wie man Wissensarbeiter generell führt. Die Antwort von Peter F. Drucker, der den Begriff der Wissensarbeit bereits 1959 einführte, ist relativ einfach: Wissensarbeiter müssen so geführt werden, als würden sie (anderweitig finanziell abgesichert) auf freiwilliger Basis mitarbeiten.

Wenn aber damit die üblichen Druck- und Motivationsmittel wegfallen, bleibt nur, einen attraktiven Sinn anzubieten, zu dem möglichst viele freiwillig einen Beitrag leisten wollen, weil es ihnen wichtig ist und sie intrinsisch motiviert sind.

4. Beiträge zu Netzwerken – mehr als Positionen in Hierarchien

Als Führungskraft braucht man heute mehr Fähigkeiten, als nur die Karriereleiter möglichst elegant zu erklimmen. Die Hierarchie ist ohne Frage eine angemessene Organisationsform, um das heutige und bekannte Geschäft effizient zu organisieren. Wenn es aber darum geht, adäquat auf den immer höher werdenden Veränderungsdruck in immer kürzerer Zeit zu reagieren, stößt die Hierarchie und stoßen klassische Change-Programme an Grenzen. John P. Kotter fordert daher, den Wandel als Normalzustand zu begreifen, und schlägt dazu neben der Hierarchie das Netzwerk als ein zweites Betriebssystem von Organisationen vor.

Dieses Netzwerk liegt quer zur Hierarchie und besteht aus lose gekoppelten Initiativen von intrinsisch motivierten Freiwilligen. Diese Armee der Freiwilligen, wie John P. Kotter sie nennt, aufzubauen, zu pflegen und darin auf Augenhöhe Beiträge zu leisten, ist eine ganz wesentliche Aufgabe von Führung, um Organisationen in Zeiten des Wandels zukunftsfähig zu gestalten.

5. Anführer hervorbringen – mehr als Anhänger anführen

Führung ist eine Frage der Haltung. Leider definiert sich Führung meist in Begriffen von Macht und Unterordnung. Das Verhältnis von Führendem und Geführten ist meistens asymmetrisch: Der Chef oder die Chefin hat mehr Erfahrung, mehr Informationen und mehr Macht als seine bzw. ihre Mitarbeitenden. Diese sind daher von ihrem Chef abhängiger als umgekehrt der Chef von ihnen.

Historisch betrachtet stammt diese Haltung aus dem Taylorismus, wo der Manager tatsächlich derjenige war, der die Arbeitsabläufe am besten verstand und sie für seine meist ungelernten Mitarbeiter in einfache Arbeitsschritte strukturieren konnte. Diese Zeiten sind allerdings lange vorbei. Die Art der Tätigkeit und entsprechend das Ausbildungsniveau der heutigen Wissensarbeiter hat sich seither radikal verändert.

Führung ist heute daher nur noch legitim, wenn sie die Selbstführung der ihr anvertrauten Mitarbeiter zum Ziel hat. Damit hat Götz W. Werner auf den Punkt gebracht, wie ein angemessenes Verhältnis zwischen Führendem und Geführten aussieht. Es geht nicht um höhergestellt oder untergeordnet, es geht darum, auf Augenhöhe als Erwachsene zusammenzuarbeiten.

Abhängige Mitarbeiter anzuführen ist das eine und sicherlich auch heute noch eine wichtige Fähigkeit. Das andere und viel Entscheidendere ist aber die Haltung, danach zu streben, die Mitarbeiter aus der Abhängigkeit herauszuführen und sie zu Anführern und Anführerinnen zu machen – wenigstens ihres eigenen Lebens im Sinne der Entfaltung ihrer Fähigkeiten.

6. Mutig das Neue erkunden – mehr als effizient das Bekannte auszuschöpfen

Die Geschwindigkeit des Lebens steigt täglich, getrieben von faszinierenden und teils beängstigenden technologischen Entwicklungen wie Künstlicher Intelligenz oder Blockchain. Damit steigt der Veränderungs- und Innovationsdruck in Unternehmen enorm. Die Halbwertszeit von Produkten und Geschäftsmodellen wird immer kürzer.

Im Klartext heißt das, dass Unternehmen sich immer wieder und in immer kürzeren Abständen neu erfinden müssen, um zu überleben. Neben der immer im Vordergrund stehenden Effizienz und Profitabilität im heutigen Geschäft muss es langfristig überlebensfähigen Unternehmen zur zweiten Natur werden, mutig neue Chancen auszuloten und ständig neue Geschäftsmodelle zu erproben.

Für echte Beidhändigkeit im Sinne organisationaler Ambidextrie, also der Fähigkeit, einerseits das Bestehende auszuschöpfen und gleichzeitig das Neue zu erkunden, reicht es nicht aus, beides nebeneinanderzustellen. Die Kunst liegt in der möglichst nahtlosen Integration von Effizienz und Profitabilität im Hier und Heute sowie der Innovation für das Morgen.

Autor:

Dr. Marcus Raitner begleitet als Agile Coach und Agile Transformation Agent seit 2015 die BMW Group IT auf ihrer Reise zu einer agilen Organisation. Er schreibt zudem über Führung, Digitalisierung, Agilität und vieles mehr in seinem Blog „Führung erfahren“: www.fuehrung-erfahren.de

 

Die Gestaltung positiver Mitarbeitererlebnisse mithilfe von Employee Experience Design ist entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens. Felicitas von Kyaw und Leon Jacob über Employee Experience Design im Beitrag „Employee Experience Design bewirkt positive Mitarbeitererlebnisse“.